Süddeutsche Zeitung

Klassik:Von wegen unpolitisch

Das Festival "Bartók for Europe" in München erklärt den Komponisten zum Vorbild für Integration. Der nicht nur in seiner politischen Haltung kompromisslose Bartók ist vielen Hörern aber zu unbequem. Bei den Konzerten blieben viele Plätze leer.

Von Reinhard J. Brembeck

An diesem Sonntag lässt die ungarische Regierung das Volk per Abstimmung darüber entscheiden, ob es will, "dass die Europäische Union ohne Zustimmung des ungarischen Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht-ungarischen Bürgern in Ungarn anordnet". Im Kontext mit dieser Abstimmung wirkte das jetzt erstmals in München abgehaltene Festival "Bartók for Europe" wie eine ungarische Charmeoffensive.

In sechs Konzerten an fünf aufeinanderfolgenden Tagen traten Musiker aus ganz Europa auf, das klug gebaute und interpretatorisch oft überzeugende Programm verortete Bartók in seinem Herkommen von Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Franz Liszt, Claude Debussy und der ungarisch-rumänischen Bauernmusik genauso wie im Umfeld seiner Nachfolger György Ligeti, Sándor Veress, Péter Eötvös und György Kurtág.

Doch der Festivalleiter und Streichquartettchef András Keller wollte weit mehr als nur Bartók spielen. "Europa", heißt es in der Festivalbroschüre, "scheint in den Augen vieler Bürger Europas einige ihrer Ideale aus den Augen verloren zu haben. Was wir am meisten vermissen, findet sich exakt im Geiste Bartóks: die Wahrung von nationalem Charakter und unserem Erbe, und auf diesem Fundament die Verwirklichung einer echten und authentischen europäischen Integration."

Weil nun die ungarische Regierung, die nicht gerade als Vorreiterin der Toleranz gilt, das Festival im Bartók-Jahr (70. Todestag 2015, 135. Geburtstag 2016) mit umgerechnet einer Million Euro unterstützte und sich András Keller vor seinem Festival nicht immer ganz geschickt ausdrückte, stand die Veranstaltung, schon bevor sie begonnen hatte, in einem schiefen Licht.

Von wegen unpolitische Musik. Darüber aber gerät die Frage aus dem Blickfeld, ob sich Bartók, der musikalisch deutsch-österreichische Einflüsse mit verschiedensten Folkloremotiven verschmolz, überhaupt als Ideal für gelungene Integration taugt. Im Jahr 1940 floh er vor dem Faschismus in Europa. Bartók hatte zuvor auf das Aufführungsverbot von Mendelssohn, Schönberg und Hindemith durch die Nazis mit dem Verbot der Aufführung seiner Werke in Deutschland reagiert, nach dem Anschluss Österreichs kündigte er seinem Wiener Musikverlag die Zusammenarbeit auf. Die letzten fünf Jahre seines Lebens verbrachte er meist in New York als Flüchtling und durchlebte einiges von dem, was Flüchtlinge auch heute durchmachen. Sein Heimweh war übermächtig, er konnte erst einmal nicht komponieren, bald schon machte Leukämie seine Auftritte als Pianist unmöglich. Freunde und Institutionen zahlten seine Krankenhausrechnungen, verschafften ihm Aufträge und Arbeit.

Bartók wertete in den USA auch seine Aufnahmen von Bauernmusik aus Ungarn, Rumänien, der Türkei und Nordafrika aus. Während der Rassenwahn Europa strangulierte, publizierte er 1942 den Aufsatz "Rassenreinheit in der Musik" und kam dabei zu einem Schluss, den er wohl nicht nur auf die Musik beschränkt meinte: "Eine vollkommene Absperrung gegen fremde Einflüsse bedeutet Niedergang; gut assimilierte fremde Anregungen bieten Bereicherungsmöglichkeiten." Also integriert er ins Finale seines späten "Concerto for Orchestra", das dirigiert von Pablo Heras-Casado das Münchner Festival beschloss, nicht nur europäische Folkloremotive, sondern auch, alles beherrschend, eine aufgekratzte Blues-Formel.

Der - nicht nur politisch - kompromisslos direkte Bartók ist vielen Hörern zu unbequem

Es dürfte aber nicht nur den politischen Implikationen geschuldet sein, dass das Festival auf geringes Publikumsinteresse stieß. München ist musikalisch saturiert, die Neugier auf Ungewohntes unterentwickelt. Zudem schreckt das Oktoberfest mögliche Konzertgänger ab, die nach dem Kunstgenuss nicht immer gern mit Menschen in der S-Bahn fahren, die gerade aus dem Bierzelt kommen. Also war bei den Auftritten des Concerto Budapest sowie des London Philharmonic Orchestra unter dem grandiosen Vladimir Jurowski - sein Debussy-"Faun" war der beste seit Menschengedenken in München - die 2200 Plätze bietende Philharmonie allenfalls zu einem Zehntel besucht. Auch das viereinhalbstündige Kammerkonzert sowie die Auftritte der fulminanten, in Ungarn sehr bekannten Folkloregruppe Muzsikás und des Münchner Kammerorchesters in der Allerheiligenhofkirche waren nicht besser besucht. Selbst beim abschließenden Abo-Konzert der Münchner Philharmoniker blieben viele Plätze leer. Der nicht nur in seiner politischen Haltung kompromisslos direkte Bartók ist vielen Hörern zu unbequem. So schön und richtig Kellers Gedanke vom Integrationsvorbild Bartóks ist, er wird vom "Volk" aus ästhetischen Gründen nicht angenommen.

Kein Künstler der Moderne lässt sich als Nationalkünstler vereinnahmen. Nationalkünstlern wie Goethe, Dante, Grieg eignet in einem hohen Maß eine integrative Rolle in der Gesellschaft. Die Vertreter der Moderne dagegen traten ausnahmslos gegen die Gesellschaft an. Das gilt für Claude Debussy, Arnold Schönberg, Igor Strawinsky und Edgar Varèse genauso wie für Bartók. "Im Freien", der Titel eines seiner Klavierzyklen, ist das Motto für all sein Komponieren. Obwohl immer korrekt im Anzug, verabscheut Bartók die muffigen Salons und das bürgerliche Konzert(un)wesen. Seine Musik gibt sich wie ihr Urheber derb, direkt, unsentimental. Sie tanzt am liebsten mit Bauern oder wie im "Wunderbaren Mandarin" mit Zuhältern, sie feiert eine dunkle Erotik, deren Machismus aufputscht und erschreckt.

Der Schriftsteller Milan Kundera hat den Komponisten Iannis Xenakis bewundernd einen "Propheten der Gefühllosigkeit" genannt. Das trifft, das Festival beweist es mit jedem Ton, auch auf Bartók zu. Nur die elementarsten Momente inspirieren ihn. Nicht zufällig ist das "Allegro barbaro" sein berühmtestes Stück. Wenn Vladimir Jurowski nach Debussys zivilisierter "Ibéria" Bartóks "Mandarin" durch den Gasteig berserkern lässt, stellt sich ein Schock ein ob dieses Wütens.

Bartók hat viel von Debussy gelernt, die von Petra Lang und Gidon Saks beklemmend gesungene Sexualneurosenoper "Herzog Blaubart" ist nur durch diesen Einfluss möglich geworden. Doch anders als Debussy will Bartók nie bezaubern und verführen - sondern schockieren und in die düsteren Abgründe der Seele stoßen.

Von ähnlichem Temperament war nur noch der Bartók-Verächter Igor Strawinsky. Doch der wurde früh und nachhaltig in Paris sozialisiert. Zudem verhinderte sein kalter Intellekt, dass er sich je rückhaltlos einer Sache hingab. Selbst "Le sacre du printemps", das Paradigma der entfesselt antiromantischen Musik, ist rhythmisch stets raffiniert berechnend gebrochen.

Solch kalte Raffinesse ist dem intellektuell genauso bewusst wie Strawinsky arbeitenden Bartók fern. Seine Musik ist streng und fordernd, kompromisslos und in keinem Moment unterhaltsam oder gar vergnügungssüchtig. Das befremdet nach wie vor sehr viele Musikfreunde. Bartók wird deshalb meist nicht geliebt, sondern nur respektvoll gefürchtet. Das aber ist nicht gerade die ideale Voraussetzung, um als Vorbild für die Massen zu wirken.

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Quelle:
SZ vom 01.10.2016
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