Klassik:Meer der Sinnlichkeit

Wie der phänomenale Blockflötenspieler Maurice Steger den Herkulessaal in München elektrisiert.

Von Harald Eggebrecht

Es gleicht immer wieder einem freudigen Schock zu erleben, wie plötzlich jemand aufs Podium tritt und so musiziert, als würde ein großes Tor aufgestoßen, das endlich den Blick frei gibt ins weite Reich der Musik. Maurice Steger, dieser vor nervöser Energie bebende Meister der Blockflöte, vermag schon durch sein Erscheinen auf der Bühne die Spannung aller zu erhöhen, so unmittelbar teilt sich seine Erwartungsfreude auf die gleich erklingende und zu spielende Musik mit. Das steckte an diesem Abend im Münchner Herkulessaal die Cappella Gabetta unter Leitung des vorzüglichen Barockgeigers Andrés Gabetta genauso an, wie es im Publikum helle Wachsamkeit provozierte.

Die brauchte man auch, wollte man den rasenden Läufen, Trillern, den dahinflitzenden Stakkati und rasch wechselnden Farben folgen, die Steger in den beiden Konzerten von Antonio Vivaldi nicht einfach vorführte, sondern mit ihnen die Musik des großen Venezianers entflammte. Doch neben dieser wahrlich atemberaubenden Demonstration der technischen Beherrschung des kleinen Holzblasinstruments steht vor allem Stegers Fähigkeit, Musik auszuphrasieren, alle Verzierungsraffinesse immer in den Dienst der Verdeutlichung des musikalischen Zusammenhangs zu stellen. Deshalb zerfallen Vivaldis Konzerte in B-Dur und G-Dur nicht in den nur dann banalen Wechsel von Solo und Tutti, sondern Steger spielt aus dem Geist des symphonischen Miteinanders bei allem Glanz des überragenden Solisten.

So werden denn auch die beiden langsamen Sätze jeweils zu einer einzigen sich steigernden Ausfahrt aufs Meer musikalischer Sinnlichkeit, auf dem Steger die sich steigernden Melodielinien "aussingt", als ob sie kein Ende nehmen könnten. Sie spannen sich weiter und weiter, bis ihre Kraft und ihr Atem tatsächlich erschöpft sind. Dagegen wirken dann die Ecksätze wie Explosionen quirliger Vitalität, purer Lebensfreude. Als "Vorpausenmusik" gaben Steger und das Ensemble noch eine "Pastorella" von Vivaldi zu, in deren leuchtend idyllischer Landschaftlichkeit man glaubte, dem König aller Hirten auf dem Felsen zu lauschen.

Dass die Cappella Gabetta bei aller Qualität im Einzelnen mit Arcangelo Corellis berühmtem Weihnachtskonzert, einer Pastoralsonata von Angelo Ragazzi und den Brandenburgischen Konzerten drei und fünf von Johann Sebastian Bach hinter Stegers Ausstrahlung etwas blass blieb, liegt auf der Hand. Als Maurice Steger mit Laura Schmid als zweiter Blockflötistin im vierten Brandenburgischen Konzert erneut auftrat, setzte die Elektrisierung aller sofort wieder ein.

Es war eine Erfahrung von Virtuosität ganz im Sinne des großen Cellisten Emanuel Feuermann: "Virtuose sollte ein Ehrentitel sein, und ich glaube, dass selbst unter den Größten auf dem heutigen Podium nur wenige ihn verdienen. Virtuose zu sein bedeutet: das größte Spielvermögen zu haben, das Kunstwerk zu achten und über die Fähigkeit zu verfügen, die eigene Persönlichkeit sinnvoll in das Kunstwerk einzubringen."

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