Süddeutsche Zeitung

Klassik:Verweigerung der Romantik

Evgeny Kissin spielt in der Philharmonie in München Schumann, Debussy und Skjrabin.

Von Michael Stallknecht

Als erste Zugabe nach einem Klavierabend die "Träumerei" von Robert Schumann zu spielen, muss man sich erst mal trauen, ist das Stück doch als Inbegriff des Romantischen längst zur Fahrstuhlmusik verkommen. Evgeny Kissin kann es sich leisten, wie nun in München zu erleben war. Denn er spielt es als erste von drei Zugaben in der Philharmonie so schlicht, in einem zurückgenommenen Aushören der melodischen und harmonischen Grundlinien, dass Kitschverdacht gar nicht erst aufkommt. Kissin ist ein Pianist, der allzu Emotionales eher zurückstellt und damit auch seine ästhetische Banalisierung hintertreibt.

Wie das geht, konnte man gleich zu Beginn des Abends mit drei Nocturnes von Frédéric Chopin erfahren. Kissin bringt hier die Oberstimmen mit einer in sich vielgestaltigen Anschlagskultur durchaus zum Singen. Aber er verleiht ihnen zugleich eine gewisse Sprödigkeit, indem er zum einen das Tempo ungewohnt drosselt, zum anderen die Bässe ebenso stark macht, sie als rhythmische und harmonische Kontrapunkte einsetzt. Mit diesem Zugang liegt er richtig bei Schumann, der gerade auch in seinen größeren Werken kein gefühliger Klischeeromantiker ist, sondern eher ein Grübler und Bastler. Entsprechend introvertiert geht Kissin seine dritte Klaviersonate in f-Moll an, bekannt auch als "Concert sans Orchestre", ausgehend vom Zentrum des wiederum recht langsam genommenen dritten Satzes, in dem Schumann ein Thema seiner Frau Clara variiert. Dass das Programmheft eine Mischung aus Früh- und Spätfassung ankündigt, schafft unnötige Unklarheit, ist das Werk doch eindeutig in der wohlbekannten Endabmischung zu hören, die Schumann 1853 selbst erstellte. Kissin gelingt freilich, was darin alles andere als einfach ist: den Zusammenhang zwischen den Sätzen herzustellen. Mit einem bestechenden Formsinn bündelt er gerade auch den ausschweifenden Schlusssatz, bei dem viele Pianisten im Rausch der vielen schnellen Noten den Faden verlieren. Kissin zeigt die formalen Grundlinien des Baus vor, spielt sie mit äußerster Trennschärfe heraus.

Der bei Debussy als Grundhaltung beschworene Impressionismus wird Teil der Struktur

Das ist möglich nur aufgrund der enormen Virtuosität, für die er bekannt ist. Denn sie erschöpft sich bei ihm nicht in der Schnelligkeit der Fingerarbeit, sondern umfasst eben auch die Klarheit der Registertrennung, die genaue Abschattierung von Farben und Lautstärken, die subtile Mischung von Klangmixturen, den genauen Gebrauch des Pedals. Zu hören bekommt man sie beispielhaft in acht ausgewählten Préludes von Claude Debussy zu Beginn des zweiten Teils, in denen Kissin etwa mittels des Pedals immer wieder Unterschiede zwischen leicht verwischten und deutlich ausgespielten Notengruppen schafft. Der bei Debussy häufig als vage Grundhaltung beschworene Impressionismus wird so Teil der Struktur, auch weil Kissin im Zweifelsfall der Klarheit den Vorzug gibt. Ausgehärtet und scharf geschnitten erscheinen die Préludes bei ihm, verlieren darüber aber auch etwas von ihrem Geheimnis.

"La cathédrale englouti" beispielsweise spielt er weniger als Gemälde einer versunkenen Kathedrale denn als beeindruckende Studie über die mögliche Schwere unterschiedlicher Akkordanschläge. Dafür arbeitet Kissin gern mit subtilem Humor Skurriles heraus wie den Cakewalk in "Général Lavine". Es ist eine entmystifizierende Grundhaltung, die auch den Umgang mit Alexander Skjrabins Vierter Klaviersonate als Schlussstück des Abends prägt. Kissin lässt sie nicht ekstatisch ins Weite schweifen, sondern findet im zweiten Satz, Prestissimo volando, zu einer buchstäblich fliegenden Leichtigkeit. Entsprechend gebündelt bleibt dieser ganze Abend, übersichtlich in der Anlage der einzelnen Stücke wie des Ganzen, nicht unspröde manchmal in seiner Verweigerung alles offen Romantischen, aber immer geprägt von einer pianistischen Meisterschaft der Form.

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Quelle:
SZ vom 19.03.2019
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