Klassik:Tranceartige Orientierungslosigkeit

Musica Viva

Stars der Musica Viva: Das Klavierduo GrauSchumacher.

(Foto: Astrid Ackermann)

Faszinierende Genauigkeit im Herausarbeiten von Stimmen: Das Klavierduo GrauSchumacher feiert den 100. Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann in der Münchner Musica-Viva-Konzertreihe.

Von Michael Stallknecht

Das klassische Modell des Solokonzerts für einen oder mehrere Instrumentalsolisten und Orchester ist für viele Komponisten seit der Nachkriegszeit zum Problem geworden. Schon Bernd Alois Zimmermann erging es so, als er 1960 das Konzert für zwei Klaviere und großes Orchester mit dem Titel "Dialoge" fertigstellte und 1965 noch einmal revidierte. Die beiden Pianisten werden hier nur noch als zwei unter den eigentlich einhundert Solisten des Orchesters behandelt, denen Zimmermann in der Partitur nicht nur häufig eine eigene Stimme, sondern zumindest der Idealvorstellung nach, sogar ein jeweils eigenes Metrum, eine eigene Zeitschicht zugedacht hat.

Das entspricht dem Modell eines pluralistischen Komponierens, dem Zimmermann im letzten Jahrzehnt vor seinem Tod im Jahr 1970 gefolgt ist und dessen bekanntestes Zeugnis seine in jüngsten Jahren fast schon zum Bühnenklassiker arrivierten Oper "Die Soldaten" ist. Die Überlagerung von mehreren Zeitschichten spiegelt sich dabei auch in der mehrerer historischer Stile, weshalb Zimmermann in der Kadenz der "Dialoge" Zitate vom gregorianischen Choral über Mozart und Debussy bis zum Jazz übereinanderschichtet.

Faszinierend die Genauigkeit im Herausarbeiten von Stimmen, im Setzen von Klangfarben.

Im Einzelnen wiedererkannt haben dürften sie freilich bei der Musica Viva im Münchner Herkulessaal nur sehr erfahrene Hörer. Weshalb es sinnvoll war, dass das GrauSchumacher Piano Duo der Aufführung mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einem Nachtkonzert am selben Ort noch die "Monologe" folgen ließ, die Bearbeitung der "Dialoge" für zwei solistische Klaviere, in der Zimmermann die Collagetechnik ausgebaut und gut wiedererkennbare Passagen von Bach, Mozart, Debussy oder Messiaen und dem eigenen Werk einkomponiert hat. Die rein pianistischen Ansprüche hat er dabei derart gesteigert, dass man nur bewundern kann, mit welch souveräner Übersicht Andreas Grau und Götz Schumacher den "Monologen" begegnen, programmatisch sinnstiftend ergänzt mit Maurice Ravels kaum weniger anspruchsvoller Klavierbearbeitung von Debussys "Trois Nocturnes" und Debussys eigener Klavierbearbeitung seines Orchesterwerks "Prélude à l'après-midi d'un faune". Faszinierend die Genauigkeit im Herausarbeiten von Stimmen, im Setzen von vielfältigen Klangfarben, die sich bei Grau und Schumacher mit einer wohltuenden Gelassenheit, einer einladenden Entspanntheit verbindet.

Als Schwerpunkt zu Zimmermanns einhundertstem Geburtstag in diesem Jahr konzipiert, bildeten die "Dialoge" und die "Monologe" aus der Spätphase einen interessanten Bogen mit der "Sinfonie in einem Satz", dem frühesten von Zimmermann selbst als gültig betrachteten Werk. Zumal sich der Dirigent Brad Lubman mit den BR-Symphonikern für die 1951 fertig gestellte Erstfassung mit Orgel entschied, sie wurde erst vor zwei Jahren durch eine Einspielung aus dem bis dahin ungedruckten Autograf zugänglich gemacht.

Weniger verschachtelt, formal auch weniger elegant als die bekannte Endfassung, hört man ihr dafür noch deutlicher an, was Zimmermanns Leben geprägt hat: das Trauma des Zweiten Weltkriegs, der ihn nicht nur um die normale jugendliche Reifezeit als Komponist brachte. Zimmermann zog sich als Soldat Verätzungen an den Augen zu, deren Spätfolgen, in Verbindung mit Depressionen, letztlich die Ursache für seinen Suizid im Jahr 1970 wurden.

Obwohl kleiner besetzt als die spätere Fassung, ist die frühere auch aufgrund des Einsatzes der Orgel noch klangwuchtiger, wirkt das düstere Pathos hier noch bedrückender. Die eruptive, fast schon rohe Energie der Komposition reißt den Hörer hinein in den "apokalyptischen Sturm", von dem Zimmermann seine ganze Epoche geschüttelt sah. Anklänge an Märsche, fatalistisch knüppelnde Pauken, dumpf brütende, dann wieder wild auffahrende Blechbläser drücken den Hörer im Herkulessaal fast in den Sitz, erlöst nur gelegentlich von einer unwirklichen Gegenwelt aus leise zitternden Streichern und glöckchenhaften Klavier- und Harfenklängen.

Gringolts reißt Phrasen auch mal härter an und betont ie jazzhaften Einsprengsel.

Die Musica Viva hat in den vergangenen Jahren verstärkt die Funktion übernommen, neben Uraufführungen auch an wichtige Werke des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Das ist unbedingt sinnvoll, weil die großen Orchester bisher oft leider nicht einmal die publikumswirksamsten Werke des 20. Jahrhunderts in ihre klassisch-romantisch geprägten Symphoniekonzerte integrieren. Dass die Uraufführung diesmal ganz ausfiel, war dennoch einer Panne geschuldet, weil der Komponist Nicolaus Richter de Vroe nicht rechtzeitig mit seinem Violinkonzert fertig wurde. Stattdessen spielte der Geiger Ilya Gringolts das "Violin Concerto" von John Adams aus dem Jahr 1993, das man im weitesten Sinne dem allzu pauschalen Begriff der Minimal Music zurechnen darf.

Schon im umfangreichen ersten Satz versetzen die schleifenartig aufsteigenden Klangbänder aus parallel verschobenen Orchesterakkorden den Hörer in eine tranceartige Orientierungslosigkeit, die im zweiten Satz zu einer Chaconne von traumartiger Substanz gerinnt. "Body through which the dreams flows" nennt Adams den langsamen Satz, in dem Synthesizer, Röhrenglocken, unwirklich hohe Geigenlagen und satt brummende tiefe Streicher den Soundtrack zu einem nicht gedrehten Science-Fiction-Film abzugeben scheinen. Weil Gringolts einen aufgerauten Ton pflegt, Phrasen auch mal härter anreißt und die jazzhaften Einsprengsel der Musik betont, wird der Klang nie zu süßlich. Der sowohl im klassischen wie im zeitgenössischen Repertoire beheimatete Geiger meidet äußerliche Virtuoseneffekte, ohne dem technisch anspruchsvollen, fast pausenlosen Solopart etwas schuldig zu bleiben. Mit abwechslungsreichen Phrasierungen gestaltet er die hochmotorisch kreisenden Sechzehntelketten, mit denen die Komposition dem Solisten im letzten Satz Gelegenheit zum klassisch triumphalen Schluss bietet.

Rhythmisch und harmonisch arbeitet Adams dabei so intrikat, dass er sich damit noch einmal einen eigenständigen Weg zum tradierten dreisätzigen Modell des Solokonzerts bahnt. Es ist ein reizvoller Kontrast zu Bernd Alois Zimmermanns Musik, der die Musikgeschichte bis heute bleibend auf ganz andere Weise geprägt hat.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: