Süddeutsche Zeitung

Klassik:Thron der Sonne

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Das Klassik-Label "harmonia mundi" wird 60 Jahre alt und veröffentlicht zu seinem Geburtstag zwei CD-Boxen mit reichlich Beispielen dafür, dass die Alte Musik sich nicht mehr nur mit zusammenfantasierten Mittelalterklängen zufrieden gibt.

Von Helmut Mauró

Es ist eine Reise in eine andere Zeit, in eine andere Welt voller wunderlicher Instrumentalklänge und emphatischer Gesangsstimmen. Dabei gehört der Countertenor Andreas Scholl bei Weitem nicht zu den ältesten Musikern, die beim französischen Klassik-Label "harmonia mundi" legendäre Aufnahmen Alter Musik eingespielt haben. Dennoch ist sein Gesang des "Stabat Mater" von Antonio Vivaldi, von dem die Welt die "Vier Jahreszeiten" kennt, ein ebensolches musikalisches Ereignis wie etwa die frühesten Aufnahmen von Alfred Deller, einem der ersten Countertenöre und prominenter Alte-Musik-Pionier. Er hat vor allem Wert darauf gelegt, dass die mittelalterliche Musik durch genaues Quellenstudium nicht nur philologisch korrekt erklingt und didaktisch wertvoll, sondern auch musikalisch lebendig.

Deller gehörte, nach den Vorgängerströmungen der Zwanzigerjahre, zur ersten großen Welle der Alte-Musik-Bewegung, die sich in den Sechzigerjahren nicht mehr mit zusammenfantasierten Pseudomittelalterklängen zufrieden geben wollte. In der ersten Box der Jubiläumsedition findet man dazu reichlich Beispiele, die heute noch überzeugen. Dagegen ist man an anderer Stelle, sofort zu Beginn, in die gleiche Falle getappt wie die musikalischen Mittelalteramateure zuvor: Man wollte noch weiter zurück - es muss ja immer der ursprünglichste Anfang von allem sein, den es dann doch nicht gibt - und mit der Musik der griechischen Antike beginnen. Von der gibt es so gut wie keine Quellen, und so muss Wille und Vorstellung ersetzen, was an Originalen fehlt. Heute klingen diese Denkmäler fiktiver Musikarchäologie vor allem nach vergangener Begeisterung, bei allem Ehrgeiz für lustige Geräusche und emphatische Gesten, irgendwo zwischen Trance und Tranigkeit.

Aber die Alte Musik ist längst nicht mehr das alleinige Aushängeschild von harmonia mundi. Inzwischen hört man dort "The heirs of Alfred Deller", die Erben, zu denen auch der herausragende Countertenor Bejun Mehta gehört, so wie zu den Erben der Cembalisten jetzt ganz selbstverständlich Pianisten wie Andreas Staier oder der wunderbare Alexander Melnikov zählen. Natürlich sind nicht nur Solisten, sondern auch einige Ensembles von Weltrang vertreten, die mit dem Label groß geworden sind in der Klassikwelt und sich noch immer wohlfühlen bei dem französischen Label, das im übrigen mit der Deutschen Harmonia Mundi (Sony) nichts zu tun hat. Die Akademie für Alte Musik Berlin ist da an vorderer Stelle zu nennen, das Freiburger Barockorchester, Les Arts Florissants oder das Collegium Vocale Gent mit seinem Leiter Philippe Herreweghe.

Eine besondere Leidenschaft bringt man dem Liedgesang entgegen. Matthias Goerne ist dabei nur einer der zum Teil hervorragenden Sänger. Harmonia mundi - Die Harmonie der Welt, das war mal eine vierstündige Oper von Paul Hindemith. Das 14. Bild im 5. Akt heißt "Barockes Himmelsgemälde mit Thron der Sonne". So ähnlich muss man sich die Arbeit und das Ergebnis derselben beim Label harmonia mundi vorstellen.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2018
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