Süddeutsche Zeitung

Klassik:Revue der Schatten

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Achim Freyer bebildert an der Staatsoper Hamburg Robert Schumanns "Faust-Szenen", Kent Nagano steht am Pult. Und der Wanderer über dem Nebelmeer schaut zu.

Von Wolfgang Schreiber

Hamburgs große Bühnen denken gerade groß, die Häuser sind den wuchtigen Mythen verfallen: Von König Lear am Schauspielhaus und der Rächerin Medea am Thalia Theater neigt sich, schmerzensreich, der Bogen bis zu Goethes Faust an der Staatsoper. München hatte im Frühjahr sein Faust-Mammutfest. Am Hamburger Opernhaus aber ist das deutsche Identifikationsmonster nur in Bruchstücken greifbar, denn Robert Schumanns Vertonung von 1849 stemmt mit Mühe eine Collage aus Faust I und II. Weder Oper noch Oratorium, halten sich die "Szenen aus Goethes Faust" für Solostimmen, Chöre und Orchester, eine Faust-Revue in romantischer Tiefe, gehorsam an Goethes Verse. Der Komponist selbst, müde und fast am Ende seiner Kräfte, wusste kaum, "wozu Musik zu solch vollendeter Poesie" überhaupt nötig sei - und wagte es trotzdem.

Achim Freyer, der hochbetagte agile Maler, Bühnenkünstler, Regisseur aus Berlin, einst Schüler Bertolt Brechts, will die disparaten Faust-Szenen mit seiner wuchernden Bilderfantasie bezwingen. Das beginnt, nach Art der Spätwerke, streng und karg. Das Auge fährt Geisterbahn, die Bühne ist in Düsternis getaucht: Nicht im Graben musiziert das Orchester, vielmehr auf abgedunkelter Bühne, hinter einer schwarzen Gaze-Wand. Auf dieser feiert Freyer die geometrische Quintessenz der Welt, reduziert auf vier reine Formen in leuchtenden Grundfarben: Rechtecke rot und gelb, Quadrat grün, Linie blau. Abstrakte Gebilde mehren sich, Formen und Farben treten hinzu, allerlei Objekte, so eine blaue Blume, Kaffeekannen oder Holzkreuz, hat der absurde Weltgeist auf dem Bühnenboden verstreut. Freyers bizarrer Rätselkosmos beschäftigt die Sinne. Als ob Tanizaki Jun'ichiros "Lob des Schattens" die Inspirationsquelle gewesen wäre.

"Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten" - Goethes "Faust"-Zueignung gibt den Rhythmus der Aufführung vor, die einem Totentanz nahekommt. Zu Schumanns spröd dramatischer, von Kent Nagano und dem Staatsorchester schwerflüssig gehaltener Ouvertüre, wankt eine Gestalt über die Bühne, die ihr Gesicht hinter einer schrundigen Totenmaske versteckt hält, die er endlich wegnimmt: Faust, der tragische Sünder, am Ende der Verlierer, der Erlöste. Finstere Figuren, Lemuren umschleichen ihn. Doch die Zauberbühne der Zeichen und schummrigen Gestalten kennt eine Konstante, die sich zentral vor dem Orchester aufgepflanzt hat: den in die Ferne schauenden "Wanderer über dem Nebelmeer" mit seinem Stab, dem hier der Kopf fehlt. Der Schattenmann des in der Hamburger Kunsthalle hängenden Gemäldes von Caspar David Friedrich fungiert als Doppelgänger, als Vision des Lebenswanderers Faust, der sich diesem Bild, einer der Ikonen der deutschen Romantik, immer wieder nähert, sich ihm anverwandelt, mit ihm identifiziert.

Kein realistisches Spiel zeigen die Faust-Szenen, und kein Werkganzes hat Achim Freyer auf die Bretter gekippt, nur fahl zwischen Aufbegehren und Panik glimmende Seelenzustände Fausts und seiner magischen Entourage. Die Aufführung lebt von der Stärke ihrer Protagonisten, von Christian Gerhaher, der Faust musikalische und deklamatorische Präsenz gibt, von der leidenschaftlichen Energie seiner Diktion, die er im ersten Teil Gretchen widmet und am Ende des zweiten Teils seiner Todesbereitschaft zuwendet. Christina Ganschs strahlende Sopranstimme lässt Gretchens "Ach neige, du Schmerzensreiche" fromm verzweifelt wehklagen. Der flammende Tonfall der "frisch lebendigen" Lebenspulse, den Gerhaher im "Sonnenaufgang" entzündet, ist von mitreißender Euphorie. Da kann der Mephisto Franz-Josef Seligs nur bassknorrig zu verneinen versuchen.

Alles läuft auf Erlösung, Verklärung durch den Chorus Mysticus zu. "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis". Die Figuren sind jetzt weißgewandet. Goethes Allegorien erscheinen als gestaltlose Licht-Medaillons. Dazu lässt Kent Nagano den Hamburger Chören ihr gnädig schwebendes Verwischtsein.

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Quelle:
SZ vom 02.11.2018
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