Klassik neu auf CD:Engelsfach

Countertenöre haben sich in den letzten Jahrzehnten einen zunehmend festen Platz in der Klassikszene erarbeitet. Jetzt singen sie nicht nur die einst für Kastraten geschriebenen Opernrollen, sondern sogar Franz Schuberts "Winterreise".

Von Michael Stallknecht

Countertenöre sind längst keine ungewöhnliche Erscheinung mehr auf und außerhalb der Opernbühnen. Als jüngstes unter den klassischen Stimmfächern vermögen sie aber noch immer für besondere Aufmerksamkeit zu sorgen, weil sich nicht nur ihre stimmlichen Möglichkeiten, sondern auch ihr Repertoire nach wie vor stetig zu erweitern scheint.

Als jüngster Stern am Counterhimmel gilt momentan Jakub Józef Orliński. Der Pole wurde nicht zuletzt durch ein knapp vier Millionen mal geklicktes Youtube-Video bekannt, das zeigt, wie er in Aix-en-Provence in kurzen Hosen auf der Straße Vivaldi sang, wobei der Kontrast zwischen der hohen Stimme und dem durchtrainierten Männerkörper - Orliński ist auch Breakdancer -der Wahrnehmung kaum geschadet haben dürfte. "Facce d'amore" - Gesichter der Liebe - hat er denn auch sein neues Album genannt (Erato), wobei er es sich mit der Liebe musikalisch nicht zu leicht gemacht hat. Ein Musikforscher hat eigens für ihn in der Schatzkiste gestöbert und neben ein paar weniger bekannten Händel-Arien einige echte Trouvaillen von fast nie gespielten Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts daraus hervorgezogen. Außerdem überzeugt Orliński nicht nur durch gestalterische Empfindsamkeit, sondern auch durch eine makellose Technik, die sich in Geschmeidigkeit, Beweglichkeit, Ausgeglichenheit zwischen den Registern und dynamischem Reichtum niederschlägt.

Obwohl Philippe Jaroussky bereits zwanzig Jahren im Geschäft ist, vermag auch er nach wie vor die Generation Youtube anzulocken. So wurde "Sileant Zephyri" aus einer geistlichen Motette Vivaldis mehr als sieben Millionen Mal geklickt, das sich nun als erster Titel auch auf einer drei CDs umfassenden Box zum runden Bühnenjubiläum findet (Erato). Es ist eine der sanften, weitschwingenden, üppig ornamentierbaren Linien, für die Jarousskys ätherische Stimme zweifellos prädestiniert ist. Aufgrund seines besonders zarten Timbres gilt der Franzose von jeher als Mann fürs Engelsfach, also neben der Oper auch für die Musica Sacra, wobei er sich aber immer wieder neue Herausforderungen gesucht hat. So hat er sich in jüngeren Jahren dem Lied genähert, zunächst dem französischen des Fin de siècle, aber inzwischen auch den deutschen Liedern Franz Schuberts, mit denen er demnächst auf Tournee gehen will und von denen zwei hier bereits auf CD zu hören sind.

Ob es auch vollständige Aufnahmen von Franz Schuberts "Winterreise" mit Countertenor braucht, dürfte dennoch Geschmackssache bleiben. Da die Counterstimme von der natürlichen Sprechstimme am weitesten entfernt liegt, entspricht sie von Haus aus erstmal nicht dem Natürlichkeitsideal der frühen Romantik, die die Kastraten als Erscheinung eines aristokratischen Zeitalters sogar von den Opernbühnen verbannte. Xavier Sabata hat es - nicht als erster, aber doch als erster prominenterer Counter - nun trotzdem gewagt (Berlin Classics). Stimmlich setzt er dabei auf einen deutlich erhöhten Anteil der Bruststimme, gestalterisch auf eine theatrale Intensität, die vom Pianisten Francisco Poyato mit dramatischen Farben unterstützt wird. Dennoch bleibt die Sache irgendwie artifiziell, klingt Schubert hier bisweilen sogar ziemlich larmoyant, was auch mit den langsamen Tempi bei manchen Liedern zu tun hat.

Wesentlich glücklicher wirkt jedenfalls die Auswahl von Liedern auf der neuen Platte von Andreas Scholl, der immer schon irgendwie der geerdetste unter den Countertenören war. Entsprechend gut liegen ihm die Bearbeitungen von Volksliedern aus der Feder von Komponisten wie Aron Copland, Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams oder auch Alban Berg, die er gemeinsam mit seiner Frau, der israelischen Pianistin Tamar Halperin, in den letzten Jahren gesammelt, ausgewählt und schließlich eingespielt hat ("Twilight Songs", Modern Recordings). Dass Scholl nun schon fast dreißig Jahre im Geschäft ist, hört man seiner Stimme dank einer perfekten Technik nie an. Mit seiner Legatokunst, seinem Farbenreichtum und seiner dynamischen Expansionsfähigkeit sticht er noch immer viele jüngere Kollegen aus. Am meisten aber überzeugt an Scholl die Natürlichkeit, mit der er diese Mittel einsetzt. Damit macht er auch ein Wiegenlied wie "The Little Horses" (aus Coplands "Old American Songs") oder eine abgedroschene Melodie wie "Greensleeves" (im Arrangement von Britten) zu einer wirklich anrührenden Hörerfahrung.

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