Süddeutsche Zeitung

Klassik:Musik als Gewaltakt

Der Dirigent Kirill Petrenko lehrt sein Münchner Publikum das Fürchten - es dankt mit fassungsloser Begeisterung.

Von Reinhard J. Brembeck

Angeblich ist ja die Digitalisierung nicht aufzuhalten, sie erfasst zunehmend alle Lebensbereiche. Sogar die schöne analoge Welt der Klassik. So sind die Brahms-Sinfonien vielen Hörern vor allem aus Aufnahmen bekannt, selbst die weltberühmten Einspielungen von Toscanini und Furtwängler sind längst digitalisiert. Die kann sich jeder überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit anhören. Und so mancher mag sich fragen, warum er diese weltberühmten Stücke überhaupt noch live im Konzert hören soll. Auf die Gefahr hin, von der Interpretation enttäuscht und von den gerade im Herbst üblichen Hustenattacken in Konzentration und Hörgenuss gestört zu werden.

Nun gibt es aber ein paar Musiker, die ein Livekonzert zu einem existenziellen Drama zu formen wissen, das weit über die mediale Sicherheit des Digitalen und den klassiküblichen Hörgenuss hinausgeht, weil es den Hörer in seinen emotionalen und geistigen Grundfesten erschüttert. Kirill Petrenko, der medienscheue Noch-Chef der Bayerischen Staatsoper und Bald-Chef der Berliner Philharmoniker, gehört zu diesen Ausnahmemusikern. Im ersten Akademiekonzert mit seinem Münchner Opernorchester legte er es darauf an, die Grenzen menschlicher Leidensfähigkeit auszuloten. Dazu taugen ihm zunächst sieben von Gustav Mahlers Wunderhornliedern. Deren nah am Jammern liegende männliche Wehmut verschiebt der Bariton Matthias Goerne ins irrlichternd Sinistre und still Irre. Goernes unheimliche Präsenz wird dadurch gesteigert, dass er auswendig singt. Jeden Moment, glaubt man, könnte er als zu Tode verwundeter Soldat, als grob abweisender Liebhaber oder als ein von Gott Verlassener ins Publikum steigen. Und dann: Wehe! Goerne hält seine mächtige basslastige Stimme wie unter Hochdruck verschlossen, die Höhe fängt er zart, aber stets mit dem Unterton der Drohung ein. Doch dann sein Donnern! Es scheint, als könne es selbst die Mauern des Nationaltheaters zum Zittern bringen.

Da aber ahnt noch niemand, was Petrenko, der bei Mahler die böse Seite des Wienerwalzerischen, das Abgefeimte und Zwiespältige dezent anrührt, mit der Vierten von Brahms vorhat. Allein die Riesenbesetzung lässt Gewaltiges ahnen. Schon der karg aus Zweitonteilchen gedrechselte Beginn wird durch die grelle Aggressivität der Geigen zersplittert. Petrenko ist dezidiert nicht gewillt, auf die Attitüde des Komponisten hereinzufallen, sich als ein kleinteilig bastelnder Handwerksmeister zu geben, der dem Barock nachtrauert. Für Petrenko ist das nur eine notdürftig errichtete Fassade, hinter der sich Ungeheuer, Vulkane und Albträume in einer Walpurgisnacht versammelt haben. Nach und nach fällt die Fassade und bald liefern sich vor Kraft strotzende Gelichter einen Tanz des Verderbens und der Düsternis.

Im langsamen Satz wirkt die plötzliche Zurücknahme ins kleinteilig Gedrechselte um so verblüffender. An solchen Stellen ist bei Petrenko zu spüren, dass Brahms mit der Sinfonieform und ihrem Großmeister Beethoven genauso gerungen hat wie einst der biblische Jakob mit einem nächtlichen Gegner, der sich als Gott ausgibt. Solch ein Ringen mit einer schemenhaften Übermacht, das mit einem Patt endet, erzeugt stets ein Unbehagen.

Und dieses Unbehagen arbeitet Petrenko in allen Satzanfängen heraus, der langsame Satz wird davon bis zum Schluss durchzogen. Es ist ein Unbehagen, das, technisch gesprochen, aus der Methode des Komponisten resultiert, große Melodiebögen nach und nach aus kleinsten Elementen aufzubauen. Die Diskrepanz zwischen Detail und großem Bogen aber, zwischen Basisintervall und Melodie beschädigt den emotional stimmigen Verlauf der Musik. Brahms beginnt seine Sätze stets als kühl konstruierender Intellektueller, der sich dann nach und nach in einen hemmungslos ausschweifenden Gefühlsmusiker verwandelt. Was für ein Widerspruch!

Statt diese kreischende Diskrepanz zu kaschieren, betont sie Petrenko. Immer wenn die bei Brahms so schwierige Melodiefindung zu einem glücklichen Ende gekommen ist und sich die Musik endlich einmal endlos und glücklich verströmt, strahlt Petrenko wie ein Visionär über sein Orchester hinweg. Dann ist sein vergeistigter Blick so gar nicht mehr von dieser Welt.

Erbarmungslose Streicher - wer dieses Stück nur digital gehört hat, kennt es nicht

Das hindert ihn aber nicht daran, solche Idyllen sogleich wieder gewalttätig zu zerstören. Im Finale, dessen Bassvariationen noch einmal Barockes beschwören wollen, findet bei Petrenko endgültig ein Endspiel im Krieg-der-Welten-Format ab. Der Herbheit der Bläser antwortet die destruktive Übermacht einer mal marschierenden, mal grotesk hüpfenden, mal erbarmungslos jagenden Streicherphalanx.

Wer das Stück nur digital gehört hat, der kennt es ganz sicher nicht. Kirill Petrenko zeigt Brahms live als Großmeister des Harmagedon. Und das Publikum jubelt bestürzt und froh ob einer so konsequenten und grandiosen Deutung.

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Quelle:
SZ vom 11.10.2017
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