Süddeutsche Zeitung

Klassik live:Die Künstlerin ist anwesend

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Am Stuttgarter Flughafen wird live musiziert. Ein Musiker, ein Besucher, zehn Minuten. Davor gibt es eine Inszenierung, die an Marina Abramovic erinnert und erstaunlich entspannend wirkt.

Von Claudia Henzler

Stuttgarts Flughafen liegt an diesem Abend verlassen da. Eine letzte Maschine wird für 21.15 Uhr aus Hamburg erwartet, der Flugplan fürs Wochenende füllt nicht einmal den halben Bildschirm. Terminal 1 wird in Zeiten der Reisebeschränkungen nicht gebraucht. Der Flughafen hat die große Halle deshalb zwei Tage lang für eine Reihe von Live-Konzerten zur Verfügung gestellt: Ein Solist spielt für einen einzigen Zuhörer, zehn Minuten lang. Dann kommt der nächste.

Wer schnell genug war, einen Termin für eines dieser 1:1-Konzerte am Flughafen zu buchen, wird in einem Nebengebäude von einer freundlichen Dame eingewiesen. Von dem Moment an, in dem der Zuhörer das Terminal betritt, wird alles in völliger Stille ablaufen. Allein schreitet der Gast durch die verglaste Halle, vorbei an den verwaisten Check-in-Schaltern von Turkish Airlines, hin zur Mitte, wo blaue Absperrbänder einen etwa sechs mal zweieinhalb Meter großen Raum markieren. Dort wartet Madeleine Przybyl, die Bratsche in der Hand, vor einem leeren Stuhl, auf dem ihr Zuhörer Platz nehmen darf.

Bevor die Musikerin zum Notenständer tritt und das Instrument ansetzt, schaut sie dem Besucher lange in die Augen. Mehr als eine Minute, vielleicht zwei. Der Blickkontakt ist Teil der Inszenierung in diesem Konzertformat. Er ist inspiriert von Marina Abramovićs Performance "The Artist is Present", die in New York vor zehn Jahren 271 Stunden lang jeden Besucher, der ihr gegenüber saß, schweigend betrachtete.

Das Modell ist auf andere Städte leicht übertragbar, mehrere Initiativen haben sich schon beraten lassen

Als Konzertauftakt ist diese Erfahrung zunächst irritierend, dann jedoch erstaunlich entspannend. Madeleine Przybyl, Solo-Bratschistin an der Stuttgarter Staatsoper, entscheidet nach dem stillen Kennenlernen spontan, welches Stück sie ihrem Gegenüber vorträgt. Diesmal sind es vier Sätze aus der ersten Suite für Violoncello solo von Johann-Sebastian Bach.

Die Idee zu diesen intimen Konzerten stammt von der Flötistin Stephanie Winker, Professorin an der Hochschule für Musik in Frankfurt. Die 1:1-Konzerte hatte sie im vergangenen Jahr für die Sommerkonzerte im Thüringischen Kloster Volkenroda entwickelt. Weil sie mit ihrer Familie in Stuttgart lebt, hat sie sich in der württembergischen Stadt mit Musikern zusammengetan. Die Staatsoper und das Symphonieorchester des SWR sind zwar nicht Veranstalter der Reihe, unterstützten das Projekt aber logistisch.

Alle Musiker spielen ehrenamtlich, Gastgeber wie die Flughafengesellschaft oder Besitzer leer stehender Galerien stellen ihre Räume kostenfrei zur Verfügung, Zuhörer zahlen keinen Eintritt, werden aber um eine Spende für den Nothilfefond für freiberufliche Musiker der Deutschen Orchesterstiftung gebeten. Das Modell ist auf andere Städte und Spielorte leicht übertragbar, mehrere Initiativen haben sich bereits von Stephanie Winker beraten lassen (1to1concerts.de).

Lohnt sich der Weg zu den Blitz-Konzerten, obwohl die Anreise deutlich länger dauert als der Auftritt selbst? Unbedingt. Der so lange vermisste direkte Kontakt mit Menschen, die vor Publikum Musik machen, mit Musik, die gerade jetzt, in diesem Moment entsteht, hat etwas von einem ganz persönlichen Geschenk.

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Quelle:
SZ vom 11.05.2020
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