Süddeutsche Zeitung

Klassikkolumne:Auf verwachsenen Pfaden

Melancholie aus dem 16. Jahrhundert, belebte Bäume, aber auch Alleskönner und überraschende Lösungen für allzu bekannte Stücke: die Klassik-CDs der Woche.

Von Reinhard Brembeck

Die alten Griechen hatten für jede der Künste eine Animatorin, seinerzeit Muse genannt, für den Tanz war dabei Frau Terpsichore zuständig. Nach ihr hat ein recht konsequent übersehener Jubilar des Jahres 2021 seine riesige Sammlung mit 312 Tänzen benannt: Der vor allem für seine aufführungspraktischen Ausführungen in dem Musikhandbuch "Syntagma musicum" berühmte Michael Praetorius starb 1621 in seinem Geburtsort Wolfenbüttel, wo er auch lange gearbeitet hat. Katharina Bäuml ist eine gelernte Oboistin, sie spielt auch Schalmei und gründete im Jahr 2005 die Truppe "Capella de la Torre", mit der sie jetzt drei Handvoll der Tänze aus dem "Terpsichore" des Michael Praetorius als "Praetorius dances" aufgenommen hat. Das sind allesamt Stücke, die den steifen Charakter von Hoftänzen und die starre Ordnung des Mittelalters bereits hinter sich lassen, ohne aber die typische Melancholie der Zeit um 1600 aufzugeben. (Sony Music)

Ganz und gar untänzerisch, dafür traumverloren und durchaus noch immer melancholisch begibt sich 300 Jahre später Leoš Janáček "Auf verwachsenem Pfade" in eine - typisch für diesen Opernkomponisten - animistisch belebte Natur, in der Bäume und Tiere sich Janáčeks als Medium bedienen, um durch ihn in Tönen zu den Hörern zu sprechen. Die zehn Miniaturen dieses Klavierzyklus sind Abschied von der ich-zentrierten Romantik, ein Abschied, den er in seinen fünf späten Opern noch sehr viel radikaler vollzog. Olena Kushpler spielt diesen Abschied voll leichter Trauer, zart romantisch, zu Neuem und Unbekanntem drängend. (Avi)

Philippe Jaroussky ist ein Musikmann, dem alles gelingt. Berühmt wurde der in sehr hoher Frauenlage singende Countertenor, weil er Barockarien nicht nur verführerisch schön, sondern auch noch die endlosesten Tongirlanden mühelos selbst hinzaubert. Aber Jaroussky will sehr viel mehr als nur Barock, er ist ein überwältigender Liedersänger. Auf einem Album hat er Vertonungen gesammelt des Dichters Paul Verlaine, des Liebhabers von Arthur Rimbaud, auf den er, so ist die Liebe, sogar schoss. Auf seinem neuen Album "À sa guitare" zeigt sich Jaroussky, allein unterstützt von dem Gitarristen Thibaut Garcia, endgültig als Alleskönner. Er kann den "Erlkönig" von Franz Schubert, Renaissance (John Dowland), Wolfgang A. Mozart und Barockes von Henry Purcell (Didos Todesklage!) und Francesca Caccini, aber auch ein Chanson von Barbara, Brasilianisches sowie Romantisches von Gabriel Fauré bis Gioachino Rossini. Aus zweiundzwanzig überraschend einander folgenden Nummern baut dieser Countertenor ein Klangzauberreich, in das sich die Hörerin wieder und wieder verlieren mag. (Erato)

Christina Pluhar ist eine Musikfrau, die die Barockmusik immer ganz neu und eigenwillig träumt und dann ihre Träume arrangiert und mit den besten Musikerinnen und Sängerinnen aufnimmt. Dieses Mal hat sie sich nach Neapel verlaufen und beschwört auf "Alla Napoletana" die von Tarantellen durchhüpfte todessüchtige Musik dieser Stadt, die immer bedroht ist vom fortwährend aktiven Vesuv. Es wimmelt von wilden Tänzen, von Männern, die zum Verwechseln so wie Frauen singen, von Verrückten (Mann wie Frau) und von einem, der sich auf dem Flohmarkt Laute, Tamburin, Glocke und Geige kauft, dazu aber auch Gewehr, Pistole und Kanone. Alles, was ein richtiger Musiker eben so braucht. Die gesungenen Tänze der Christina Pluhar verschleppen die Zuhörerin direkt nach Neapel, sodass sie eine Brise von Capri oder Procida herüberzuwehen glaubt. (Erato)

Andreas Staier ist der fantasiebegabteste und eigenwilligste unter den Cembalisten und Hammerklavierspielern. Und je älter er wird, umso freier und eigenwilliger spielt er, umso überraschender sind seine Lösungen gerade auch bei den bekanntesten Stücken. Jetzt hat er Johann Sebastian Bachs "Wohltemperiertes Clavier" aufgenommen, aber nicht den ersten, sondern den zweiten Band. Dass der Hörer schon bald das Gefühl hat, dass er in einen das Herz aufpeitschenden Frühlingssturm geraten ist, liegt aber nicht nur am treibend tänzerischen Zugriff und der Virtuosität von Andreas Staier, sondern auch an seinem Cembalo, einer Kopie eines 1734 von Hieronymus Albrecht Haas gebauten Instruments, das Staier ganz besonders ins Herz geschlossen hat. Weil es den Hörer mit einem sensationellen, voluminös orgelhaften Klang umfängt, sodass er liebend gern im Klangmeer des Herrn Bach planschen und sogar untergehen möchte, was aber Andreas Staier immer in letzter Sekunde zu verhindern weiß. (Harmonia Mundi)

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