Süddeutsche Zeitung

Klassik:Hütet euch vor den Möhren!

Das Opernhaus von Lyon gräbt Jacques Offenbachs irrwitzige Operette "Le Roi Carotte" wieder aus.

Von Michael Stallknecht

Das Ding ist hässlich. Quietschorange, die Finger borstig behaart, an den Füßen noch den Dreck der Erde, aus der es gekommen. Und es ist ein Rüpel, bohrt in der Nase, betrinkt sich bis zum Umfallen. Doch es hat nun mal den festen Willen zum Herrschen. Das Ding ist eine Karotte. "Stellt euch vor! Ein Gemüse auf dem Thron, das gab es noch nie!" Doch, das gab es: in Jacques Offenbachs "Le Roi Carotte", uraufgeführt im Jahr 1872 in Paris, woraus diese Zeilen stammen. Und das gibt es nun wieder: am Opernhaus in Lyon, wo das Stück jetzt wiederentdeckt wurde. Erzählt wird die Geschichte des sympathischen, aber leichtfertigen Königs Fridolin XXIV., dessen Thron vom fiesen König Karotte usurpiert wird. Um sich zu bessern, muss Fridolin eine Heldenreise antreten, bis er wieder König werden darf. Eine Wunderlampe befördert ihn in die Ruinen des antiken Pompeji, die sich mit altrömischem Leben füllen, in ein Ameisenreich, wo er das Arbeiten lernen soll, und zu den Affen in den Urwald.

"Feerien" nannte das 19. Jahrhundert solche großen Ausstattungsstücke auf der Basis märchenhafter Stoffe, und Offenbachs "Opéra-bouffe féerie" galt einem zeitgenössischen Kritiker als "das letzte Wort der Gattung". Sechs Stunden dauerte die Uraufführung am Théâtre de la Gaîté und benötigte 1150 Kostüme. Das Libretto schrieb Erfolgsautor Victorien Sardou, der Motive aus E. T. A. Hoffmanns Märchen "Klein Zaches genannt Zinnober" aufgriff.

"Le Roi Carotte": Das ist, als habe Offenbach die Musik zu einem von Disneys erfolgreichen Musikfilmen komponiert. Nicht nur drängt die Ästhetik bereits eindeutig Richtung Film, sie setzt auch schon auf dieselbe Mischung aus mythischen Panoramabildern, Technikverliebtheit und liebevoll gezeichneten Details, aus einem eher direkten Humor und einer sentimentalen Liebesgeschichte. Natürlich konkurrieren Fridolin und das Karottenmonster nicht nur um ein Reich, sondern auch noch um eine Prinzessin. Und wie auch heute die besseren Produktionen aus dem Hause Disney ironisiert sich das Ganze dabei ununterbrochen selbst, macht sich aus aufgeklärter Perspektive lustig über die eigenen magischen Elemente oder konterkariert hinterrücks die Geschlechterklischees, die es nach vorn hin behauptet.

Es ist die Stärke der Lyoner Aufführung, dass sämtliche Rollen mit Sängern besetzt sind, die die für Offenbach zentrale Mischung aus raschem Parlando, leicht schwebenden Gesangslinien und gut gesprochenen Dialogen beherrschen. Der Chor erfüllt die vielen kleinen Noten mit bestechender Diktion und ist sich zwischen dekadenten Pompejern und marschierenden Ameisen für keine noch so irre darstellerische Aufgabe zu schade. Allein dem Dirigenten Victor Aviat mangelt es etwas an innerem Swing für die Musik, zum Nachteil der Solisten drückt er aufs Tempo.

Erstmals ist das Stück nach einer quellenkritischen Edition von Jean-Christophe Keck zu hören. Die Chöre und Orchesterzwischenspiele entfalten starke Atmosphären, unter den Gesangsnummern erscheinen die Ensembles bedeutender als die Solonummern - gipfelnd in einem grandiosen Eisenbahnsong, mit dem König Fridolin und sein mitreisendes Rumpfkabinett den antiken Pompejern die Bedeutung des Zugreisens zu vermitteln versuchen. Wie viele Stücke Offenbachs steckt auch dieses voller aktueller Anspielungen, ohne dass die Autoren sich politisch klar verorten würden. Die Zeitgenossen dürften in Fridolin den gerade gestürzten Napoleon III. wiedererkannt haben, während König Karotte und sein unterirdisches Gefolge die Radikalen der Pariser Kommune repräsentierten. Am Schluss erhebt sich das Volk gegen das regierende Gemüse, wozu Offenbach echte Revolutionsgesänge zitiert.

Die Macher der Uraufführung hatten nach knapp zweihundert erfolgreichen Vorstellungen noch immer nicht die Produktionskosten wieder eingespielt, und auch heute würde eine vollständige Wiederaufführung die Etats fast aller Opernhäuser sprengen. In Lyon hat man das Stück auf drei Stunden gestrichen. Manches vermisst man in der Inszenierung von Laurent Pelly schmerzlich, vor allem die kleinen Zaubertricks, die viel vom animationsfilmhaften Charme ausmachen: Im Original wird ein Mond zur Uhr, ein Insektenorchester spielt skurrile Instrumente. Diese sanft aktualisierende Produktion verzichtet auf aktuelle politische Bezüge. Am Schluss zitiert Pelly das Barrikadenbild aus der Musicalfassung von "Les Misérables". "Nieder mit dem Tyrann, nieder mit dem Scharlatan!", heißen die entsprechenden Zeilen in Offenbachs Stück. Dann wird König Karotte zu Möhrenpüree verarbeitet.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2015
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