Süddeutsche Zeitung

Klassik:Himmelsstimme

Musik als körperlich-geistiger Drahtseilakt: Brigitte Fassbaender ist eine der großen Sängerinnen des 20. Jahrhunderts. An diesem Mittwoch feiert sie ihren achtzigsten Geburtstag.

Von Julia Spinola

Zwei Takte und man hört, wer da singt: dieses dunkelrot leuchtende, charaktervoll herbe, zugleich unglaublich abstufungsreiche Mezzosoprantimbre, die atmende Phrasierung, das bedingungslos hingegebene, und doch völlig unmanierierte Durchleben jeder einzelnen Note. Im dritten von Gustav Mahlers "Liedern eines fahrenden Gesellen" schärft Brigitte Fassbaender ihre Stimme zum "glühend' Messer". Zu den hochgepeitschten Klängen des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Riccardo Chailly wirft sie sich mit einer solchen Unmittelbarkeit in die panischen Gesangslinien, dass einem der Atem stockt. Sie überlässt sich mit expressionistischer Dringlichkeit den zwischen Entsetzen, Angst und Schmerz irrlichternden Fieberkurven des getriebenen Gesellen.

Aber sie formt dabei doch jeden Ton, jeden Atmer so kontrolliert, dass sie das Werk nicht antastet, es nicht in egomanischer Ausdruckswut verzerrt. Stattdessen wirft hier eine Künstlerin voller Demut vor dem Komponierten alles in die Waagschale, um ein Maximum seines Ausdrucksgehalts herauszuholen. Diese Gleichzeitigkeit von Unbedingtheit und Präzision, von Identifikation und Ehrfurcht, von Körperlichkeit und Durchgeistigung ist neben der funkelnden Glut ihrer Stimme das größte Geheimnis dieser Sängerin, die zu den begnadetsten des Jahrhunderts zählt.

Singen bedeutete für sie, sich "das Herz aus dem Leib" zu reißen.

In Brigitte Fassbaenders Interpretationen erlebt man Gesang hautnah als einen körperlich-geistigen Drahtseilakt. Ein Hauch von Erdenschwere schwingt als Farbe noch in den jubelndsten Höhenflügen mit - das macht die Wahrheit ihrer Kunst aus. Ihre Töne treffen dorthin, wo die Physis den Himmel berührt.

Und so mag man es zwar bis heute bedauern, dass sie schon im Alter von Mitte fünfzig ihren Abschied vom Singen nahm, um ihre künstlerischen Einsichten fortan anders weiterzutragen: in ihren zahlreichen Operninszenierungen vor allem, aber auch als Intendantin, als Festspielleiterin und als Pädagogin. Die Begründung jedoch, mit der Brigitte Fassbaender auf dem Zenit ihrer Karriere im Januar 1995 ihren Rückzug von den Konzert- und Opernbühnen bekannt gab, war so kompromisslos und authentisch, wie man es von ihren Auftritten kannte. Sie wolle sich nicht länger mehr so tief ins Innerste blicken lassen, erklärte sie. Singen bedeutete für sie, sich "das Herz aus dem Leib" zu reißen. Eine Haut habe sie auch nicht gehabt: "Dieser ganze Beruf war ein existenzielles Müssen".

Vor ihren Auftritten, besonders vor ihren Liederabenden, bei denen ihr keine Rolle Schutz bieten konnte, revoltierte ihr gesamtes Nervensystem. Lampenfiebergeschüttelt bis zur letzten Sekunde, so gestand sie in einmal einem Interview, habe sie sich jedes Mal gefühlt, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank trotte.

Der Octavian wurde die Glanz- und Paraderolle Brigitte Fassbaenders.

Geboren wurde Brigitte Fassbaender am 3. Juli 1939 in Berlin als Tochter der Schauspielerin Sabine Peters und des Baritons Willy Domgraf-Fassbaender, einem der führenden Sänger in den dreißiger und vierziger Jahren, der dann ihr einziger Lehrer blieb. An der Musikhochschule in Nürnberg wurde sie von Rudolf Hartmann, dem damaligen Intendanten der Bayerischen Staatsoper, entdeckt und debütierte 1961 in München als Nicklaus in Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen". Schon ein Jahr später sang sie neben Fritz Wunderlich und Hermann Prey im "Eugen Onegin" und wurde 1970 zur vermutlich jüngsten Kammersängerin gekürt.

Fünfzehn Jahre lang arbeitete sie sich als Ensemblemitglied durch alle wichtigen Rollen ihres Fachs, von den Wolfgang A. Mozart über Engelbert Humperdincks "Hänsel", Giuseppe Verdis Amneris und Eboli bis zu Georges Bizets "Carmen" und der Charlotte in Massenets "Werther", einer ihrer Lieblingsrollen. Ihre Weltkarriere begann, nachdem sie 1971 mit dem Octavian aus dem "Rosenkavalier" am Royal Opera House in London debütiert hatte. Der Octavian wurde die Glanz- und Paraderolle Brigitte Fassbaenders. Niemand vermochte dieser geschlechtlich ambivalenten Rolle (eine Frau singt einen jungen Liebhaber) eine vergleichbare Tiefe und Vielschichtigkeit zu schenken. Von der genialen Produktion mit Dirigent Carlos Kleiber gibt es leider bis heute keinen legalen Mitschnitt.

Während Brigitte Fassbaender in den folgenden Jahrzehnten schon an allen renommierten Häusern und Festivals auftrat, blieb sie zugleich auch der Bayerischen Staatsoper in der Ära von Wolfgang Sawallisch noch mit Auftritten in zahlreichen Produktionen treu, insgesamt fast dreißig Jahre lang.

Immer steht im Zentrum ihrer Arbeit der singende Mensch, dem sie ein Maximum an Authentizität und Ausdruck entlocken möchte.

Seit den frühen Achtzigerjahren hat sie sich zunehmend dem Lied zugewandt und eroberte Schuberts Liederzyklen für die weibliche Stimme. Sie war die überhaupt erst dritte Frau, die sich an Schuberts "Winterreise" wagte und schenkte diesem heute oft in manierierte Wehleidigkeit verzerrten Einsamkeitsepos, begleitet von Komponist Aribert Reimann am Klavier, eine unverzärtelte Intimität. Aber auch ihre Interpretationen von Johannes Brahms' "Die schöne Magelone", die Lieder von Wolf, Strauss, Schumann, Liszt und Mahler - so das "Lied von der Erde" unter Carlo Maria Giulini - haben Maßstäbe gesetzt.

Ihrem Ensemblegeist blieb Brigitte Fassbaender nach ihrem Abschied von der Bühne auch in ihrer Arbeit als Regisseurin treu. 1990 gab sie ihr Regiedebut mit Giacomo Rossinis "La Cenerentola" und inszenierte seither im In- und Ausland. 1995 übernahm sie die Operndirektion in Braunschweig und wechselte vier Jahre später als Intendantin an das Tiroler Landestheater. Geleitet hat sie außerdem den Eppaner Liedsommer in Südtirol und das Richard-Strauss-Festival in Garmisch-Patenkirchen. Gerne hätte man sie als Intendantin des Münchner Gärtnerplatztheaters gesehen, doch es kam anders.

Viele Jahre lehrte Brigitte Fassbaender auch als Professorin an der Münchner Musikhochschule. Meisterkurse gibt sie bis heute. Und immer steht im Zentrum ihrer Arbeit der singende Mensch, dem sie ein Maximum an Authentizität und Ausdruck entlocken möchte. An diesem Mittwoch feiert diese große Künstlerin ihren 80. Geburtstag.

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Quelle:
SZ vom 03.07.2019
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