Süddeutsche Zeitung

Klassik:Eingestürzter Neubau

Eine Abwicklung ganz ohne Pathos: Das grandiose "SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg" gab nach 70 Jahren sein letztes Konzert. Es wird fusioniert.

Von MICHAEL STALLKNECHT

Atmen, erst einmal atmen. Kaum hörbar beginnt das Orchesterstück "über" von Mark André mit den reinen Luftströmen der Soloklarinette, dann schleicht sich das Atmen, von subtiler Live-Elektronik verfremdet, langsam in die Instrumentengruppen des Orchesters. Es wird ein dreiviertelstündiges Kommen und Gehen von meist leisen Klängen daraus werden, ein auskomponierter Schwebezustand, bevor das Stück wieder in das Nichts des anfänglichen Atmens zurücksinkt.

So wie das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg vor siebzig Jahren entstanden ist, um sich nun aufzulösen. Nicht ins Nichts immerhin, aber in das neue SWR-Symphonieorchester, das mit dem Beginn der kommenden Spielzeit durch die Fusion mit dem zweiten Orchester des Südwestrundfunks (SWR), dem Radiosinfonieorchester Stuttgart entstehen soll. Vor einem Jahr haben die Freiburger Musiker bei den maßgeblich von ihnen bestimmten Donaueschinger Musiktagen der Komposition "über" den Orchesterpreis verliehen. Nun spielen sie es noch einmal im Freiburger Konzerthaus, das 1996 für sie gebaut wurde. Es ist das letzte Konzert eines Orchesters, das im Nachkriegsjahr 1946 aus den Überlebensresten des Baden-Badener Kurorchesters gegründet worden war und seitdem mit der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts verbunden war wie kein zweites.

Mit einer Totenfeier hatte dieser insgesamt vierstündige, berührende, aber niemals falsch pathetische Abend denn auch begonnen, genauer: mit der gleichnamigen Frühfassung des ersten Satzes aus Gustav Mahlers II. Symphonie. Pathos ist die Sache dieses Orchesters nicht, wie man dabei hören kann. Das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg hatte den in der Nazi-Zeit verfemten Mahler schon vor dessen Renaissance in den 1960er-Jahren entdeckt. In den 90er-Jahren spielte dann Chefdirigent Michael Gielen dessen neuneinhalb Symphonien in einer Weise ein, welche die modernen Anteile dieser Kompositionen in bis dahin nie gehörter Weise bloßlegte.

Für die beiden Orchester SWR bedeutet die Fusionierung ein Desaster

An diesem Abend kann man sie nochmals hören, die Mahler-Tradition dieses Orchesters: analytisch, transparent im Klangbild, unerbittlich vorwärts drängend. François-Xavier Roth, seit 2011 Chefdirigent, setzt auf die formalen Zusammenhänge, lässt die einzelnen Orchestergruppen trennscharf hervortreten. Mahlers Weltuntergänge ereignen sich durchaus, aber nicht über emphatische Einfühlung, sondern über Einbrüche, Abrisse, unerwartete dynamische Explosionen. In Franz Schuberts Unvollendeter spürt der Hörer dann auch die Nähe zur historischen Aufführungspraxis spüren, welche die Freiburger früher als die meisten großen Symphonieorchester rezipierten. Die Streicher spielen schlank und vibratoarm, die Bläser explodieren trocken.

Ob sich die Fusionierung mit dem Radiosinfonieorchester Stuttgart ästhetisch und auf menschlicher Ebene vollendet, das werden erst die nächsten Spielzeiten zeigen. Für die beiden Orchester bedeutet sie ein Desaster, das viele verhindern wollten und das SWR-Intendant Peter Boudgoust dennoch durchgesetzt hat. In Freiburg wird die Fusion von vielen schlicht als feindliche Übernahme gelesen, da Stuttgart der neue Stammsitz wird. Viele Musiker haben Familie in Freiburg und müssen nun pendeln. Das Programm der ersten Spielzeit lässt die Konzertreihen in Baden-Baden und Freiburg bestehen, auch legt man weiterhin Wert auf zeitgenössische Kompositionen und das Engagement für Donaueschingen. Der Untergang eines Symbols der Moderne ist es dennoch. Und für den Sender dürfte sich die Fusion kurzfristig nicht einmal ökonomisch auszahlen. Da man Kündigungen vermeiden wollte, wird das neue Orchester viel zu groß sein. Die anvisierte Plangröße soll über Pensionierungen entstehen, was zu einer schleichenden Überalterung des neuen Orchesters führen dürfte.

Also demonstriert das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg in diesem Konzert mit zentralen Stücken seines Repertoires noch einmal, welche existenzielle Rolle es 70 Jahre lang für die Entwicklung wichtiger Komponisten des 20. Jahrhundert spielte. Für György Ligeti zum Beispielen, dessen "Atmosphères" sie 1961 uraufgeführt haben, bei den schon erwähnten Donaueschinger Musiktagen, dem wichtigsten Festival für zeitgenössische Musik. "Atmosphères" wurde zu Ligetis beliebtester Orchesterkomposition, bekannt weit über die engen Zirkel der Avantgarde hinaus. Oder für den im Januar verstorbenen Pierre Boulez, dem am Pult dieses Orchesters der Durchbruch als Dirigent gelang. Im Freiburger Konzerthaus entfalten seine "Notations" eine enorme Farbvielfalt auf engstem Raum, neun Schlagzeuger sorgen für glasklare Klangexplosionen.

Man versteht, was Karlheinz Stockhausen über dieses Orchester gesagt hat: dass man in einer seiner Kompositionen bei diesem Orchester die Fehler "schon so genau wie bei Mozart" habe hören können und dass darin "eine unerhörte Beschleunigung der Geschichte" liege. Nicht, weil die Musiker Fehler machten. Sondern weil sie die "Atmosphères" und die "Notations" so spielen, dass die komplexen Strukturen erfahrbar werden. Die Musiker denken hörbar mit, so wie sie sich dieses letzte Programm gemeinsam ausgedacht haben. Damit lassen sie die Musik verständlich werden, statt das manchmal Esoterische neuer Musik zu zelebrieren.

Die Ovationen würgt der Dirigent schnell ab. Pathetisch soll es auch zuletzt nicht werden

Es ist wohl auch ein Grund dafür, dass sie die Bürger Freiburgs auf diesem Weg in die Zeitgenossenschaft haben mitnehmen können. Das Orchester hat die "Atmosphères" bei einem gemeinsamen Auftritt mit den Söhnen Mannheims gespielt, hat ein Heimspiel des FC Freiburg musikalisch begleitet. Und es hat über seine Education-Programme auf die Jugend der Stadt gewirkt, gerade auch auf die, welche nicht in Konzerte kommt. Am Vorabend hat man sich bereits mit einem großen Open-Air von der Stadt verabschiedet, auch dieses letzte Konzert wird über Großbildleinwände nach draußen übertragen. Drinnen halten am Ende die Freiburger Schilder mit roten Herzen hoch. Sie wollen ihr Orchester genauso orgiastisch feiern, wie das letzte Stück des Abends klingt: Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps", das wichtigste Durchbruchswerk der Moderne, das von einem Opfergang erzählt und von der Nähe zwischen Tod und neuem Leben.

François-Xavier Roth wühlt auch da nicht im Urschlamm eines atavistischen Rituals, sondern entfesselt den "Sacre" in rhythmischer Präzision und pointierten Klangattacken. Dann winken die Musiker, das Publikum tut es auch. Die Ovationen aber würgt Roth nach wenigen Minuten ab, indem er die Musiker von der Bühne schickt. Pathetisch soll es auch in den letzten Minuten nicht mehr werden.

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Quelle:
SZ vom 19.07.2016
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