Süddeutsche Zeitung

Klassik:Das Genie und die Affen

Der Pianist Lucas Debargue hat eine ungewöhnliche Geschichte und spaltet die Klassikwelt in glühende Bewunderer und Skeptiker. In München überzeugt er als Melodienspieler.

Von MICHAEL STALLKNECHT

Als Zugabe bei seinem ersten Auftritt in München spielt der Pianist Lucas Debargue zunächst die erste "Gnossienne" des Klassiksonderlings Erik Satie - um dann eine intrikate Jazzimprovisation zu beginnen. Der Beifall lässt ahnen, dass viele der Zuschauer im überraschend gut besuchten Prinzregententheater nur darauf gewartet haben. Ein Video bei Youtube zeigt den jungen Franzosen, wie er nach einer Wettbewerbsrunde des Tschaikowsky-Wettbewerbs im vergangenen Jahr voll überschüssiger Energie vor sich hin improvisiert.

Bei diesem renommierten russischen Wettbewerb geschah dem heute 26-Jährigen das Beste, was einem jungen Musiker unter aufmerksamkeitsökonomischen Gesichtspunkten passieren kann: Die Jury zerstritt sich öffentlich über ihn. Der russische Pianist Boris Berezowsky nannte ihn ein Genie, während Debargues französischer Landsmann Michel Béroff seine Professionalität anzweifelte. Er sei zu ich-, zu wenig musikbezogen, wandte Béroff ein. Am Ende entschied Valery Gergiev, Schirmherr des Wettbewerbs, den Viertplatzierten entgegen der Regeln in der Preisträgergala auftreten zu lassen.

Das Aufsehen war umso größer, als Debargues Biografie kaum der klassischen Laufbahn eines Jungpianisten zu entsprechen schien. Da wurde kolportiert, er habe sich das Klavierspielen mit elf Jahren selbst beigebracht, um es mit 15 wieder aufzugeben und auf die E-Gitarre umzusteigen. Erst mit 20 sei er zu der Pianistin Rena Shereshevskaya gekommen und habe sich dann gemeinsam mit ihr vier Jahre lang auf den Tschaikowsky-Wettbewerb vorbereitet. Der Klaviermarkt erkannte rasch das Potenzial, das in einer solchen Legende steckt. Seit einem Jahr tourt Debargue mit vollgestopftem Terminkalender von Kontinent zu Kontinent. Soeben ist seine zweite Platte bei Sony erschienen.

Wie aus dem Nichts lässt Debargue jene vier Sonaten Domenico Scarlattis entstehen, mit denen er sein Münchner Konzert beginnt. Sichtbar nervös setzt sich der schlaksige junge Mann mit der Nerd-Brille ans Klavier, um auf vollkommene Stille zu warten. Was man danach hört, sind vier intime, impressionistisch hingetupfte Träumereien. Debargue singt Melodiestimmen mit schönem Anschlag in der rechten Hand aus, ohne sentimental zu werden. Bei den Tempi schlägt er dagegen gern kapriziöse Haken. Anhänger der historischen Aufführungspraxis werden an Debargues Zugang nicht allzu viel Freude haben. Hier kreist tatsächlich ein Ich radikal um sich selbst und nimmt sich seine Freiheiten aus dem Moment.

"Musik ist ein Herzensbrecher, der dein Leben verändert", sagt Debargue im Gespräch zwei Stunden später. Er müsse einen inneren Grund fühlen, um Musik machen zu können. Deshalb komme für ihn das Üben auf den Tasten immer an letzter Stelle. Viel eher versuche er die Partitur lesend zu verstehen. Debargue erzählt, dass er zunächst vier Jahre lang Literaturwissenschaften studiert habe, bevor er sich intensiv dem Klavier zuwandte. Und dass er zeitweise Jazz- und Rockstandards in einer Bar an der Pariser Place Pigalle spielte. Daneben komponiert er selbst. "Musiker müssen improvisieren und komponieren können", sagt er, "es ist derselbe Prozess".

Fragen nach seinem pianistischen Lebensweg dagegen beantwortet Debargue merklich zögerlich. Inzwischen studiere er ganz normal Klavier an der École normale Alfred Cortot in Paris, sagt er schließlich. Er betont aber gleich, dass das im Grunde egal sein. Debargue legt Wert darauf, dass er sich von den "vielen kleinen Affen" abhebt. Die Affen, das sind für ihn jene Musiker, die seit Kindertagen nichts anderes getan haben als Klavierspielen. "Jeder kann Chopins Etüden spielen, wenn er lang genug übt", glaubt Debargue.

Diese Selbstdarstellung des jungen Pianisten, aber auch die Diskussion der Wettbewerbsjury um ihn rekurriert auf einen ziemlich alten Diskurs: den um das Originalgenie. Danach ist nur der Musiker ein wahrer, der alles in spontaner Eingebung aus der eigenen Persönlichkeit schöpft. Die manuelle Beherrschung des Instruments und die Fähigkeit zum persönlichen Ausdruck werden dann gern gegeneinander ausgespielt, die Ausbildung erscheint latent als verbildend. Dieser Diskurs ist uns noch immer so vertraut, dass wir ihn gedankenlos abzunicken geneigt sind.

Debargue tourt mit jenem Repertoire, das man den "Klavieraffen" zuordnet

Dabei nehmen die "kleinen Affen" in der Realität auf dem Klaviermarkt gar nicht allzu viele Plätze ein. Die Auswahl unter den ständig nachwachsenden Jungpianisten ist viel zu groß, als dass sich reine Schnellspieler lange an der Spitze halten könnten. Aber die Unübersichtlichkeit des Marktes dürfte der wichtigste Grund dafür sein, warum lieber nach Originalgenies gesucht wird.

Dabei tourt auch Debargue bislang vor allem mit jenem Repertoire, das man gern den "Klavieraffen" zuordnet: der spätromantischen Virtuosenliteratur. Auf seiner neuen CD findet sich zwar auch eine Toccata von Johann Sebastian Bach und eine Sonate Ludwig van Beethovens. In München aber stehen nach Scarlattis Sonaten Maurice Ravels "Gaspard de la nuit" sowie Franz Liszts h-Moll-Sonate auf dem Programm. Das sind Stücke, die extreme manuelle Fertigkeiten erfordern.

Wiederum überzeugt bei Ravel vor allem der langsame Mittelsatz, in dem Debargue den Melodiebogen schön über das Stück hinweg spannt. Dem letzten Satz dagegen fehlt es an Schärfe und an dämonischem Witz. Und bei Liszt schöpft der junge Pianist bei weitem noch nicht die Bandbreite zwischen Himmel und Hölle aus, die in diesem auch emotional tiefgründigen Werk möglich wäre. Eher bestätigt sich der Eindruck, den auch die CDs erwecken: dass es Debargue bisher noch an einer Vielfalt der Farben fehlt, dass alle Stücke bei ihm ein wenig gleich klingen.

Eine wesentliche Ursache ist ein eher schlichtes technisches Problem: Debargue stellt beim Spielen die Handgelenke hoch und versucht Durchschlagskraft auch in kräftigeren Passagen allein mit den Fingern zu erreichen. Der Ton bleibt dadurch leicht gläsern, was im Piano ein reizender Effekt sein kann. Die Möglichkeiten zu einem satten und runden Forte, aber auch zu dunkleren, schwärzeren Farben fehlen bislang. Technik und Ausdruck sind keine Gegensätze beim Musizieren, sie bedingen sich einfach nur wechselseitig.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2016
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