Saisonstart der BR-Symphoniker:Im Fluss

Pressebilder: Probenarbeit zur Missa solemnis beim BRSO unter John Eliot Gardiner

John Eliot Gardiner bei den Proben zu "Missa solemnis" vor einem Jahr.

(Foto: Astrid Ackermann)

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks holt in München Beethovens Geburtstag mit der "Missa solemnis" nach - und feiert mit dem Publikum das Ende der Auszeit.

Von Michael Stallknecht

Pressebilder: Probenarbeit zur Missa solemnis beim BRSO unter John Eliot Gardiner

John Eliot Gardiner bei den Proben zu "Missa solemnis" vor einem Jahr.

(Foto: Astrid Ackermann)

Eigentlich hätte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks die "Missa solemnis" bereits im April 2020 aufführen wollen, zu Ludwig van Beethovens 250. Geburtstag. Der fiel aus bekannten Gründen weitgehend ins Wasser, ebenso wie fast das ganze drauffolgende Jahr für das Orchester. Dass die BR-Symphoniker die neue Saison nun mit einem der bedeutendsten Werke der geistlichen Musik eröffnen, entspricht durchaus dem festlichen Anlass, und sei es nur als Segenswunsch.

Im Münchner Herkulessaal sitzt das Publikum wieder dicht an dicht wie in alten Zeiten. Im freundlichen Applaus für die Mitwirkenden zu Beginn, erst recht im anhaltenden Jubel danach spürt man deutlich den Wunsch auch des Publikums, dass diese Saison möglichst wie geplant über die Bühne gehen möge. Entsprechend hoch ist der Einsatz von Solisten, Chor und Orchester, das Engagement, das sie in den Auftakt einbringen.

Den Chor des Bayerischen Rundfunks hat man selten strahlender und klangprächtiger gehört, durchschlagskräftig in den großen Steigerungen, süß und innig in der Friedensbitte des abschließenden "Agnus Dei". Dirigent John Eliot Gardiner hat ihn in ungewöhnlicher Aufstellung postiert: Die Männerstimmen - links der Bass, rechts die Tenöre - nehmen die Frauenstimmen quasi in die Zange, womit sie stärker als jeweils eigenständige Stimmen hörbar bleiben und der Gesamtklang an Durchsichtigkeit gewinnt. Überhaupt ist Gardiner an Klarheit gelegen, an deutlicher Artikulation im Chor, an genauer Phrasierung im Orchester.

Das ist wichtig deshalb, weil Beethovens "größtes Werk" - so das Eigenlob des Komponisten - eben auch eine grauenhaft feierliche Angelegenheit werden kann. Schnell frisst sich das Pathos hier fest, eilt die Musik von Ekstase zu Ekstase, lässt den religiösen Gehalt umso fragwürdiger werden, je entschlossener es ihn beglaubigen will. Dass all das bei Gardiner nicht passiert, belegt erneut, warum der 78-Jährige von vielen zu den bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit gerechnet wird: Weil er die Musik immer im Konkreten durchdenkt und durchfühlt. Pauschalen Lärm gibt es hier nicht, obwohl es der Aufführung nicht an Kraft und Verve, nicht an Intensität und auch nicht an religiöser Inbrunst fehlt.

Aber die Kraft bleibt immer strukturiert, entsteht aus einer genau entwickelten Dynamik und aus dem Binnenverhältnis der Stimmen. Und sie wird ausbalanciert durch das Leise, das Inbrünstige, das sich seinerseits nie zum Frömmelnden, bigott Andachtsvollen verselbständigt. Die immer schon geäußerten Zweifel, ob nicht Beethoven selbst die einzelnen Teile der Messe unter den Händen zerfallen sind, werden darüber ausgeräumt: Bei Gardiner stimmen die Proportionen, die Temporelationen, die Übergänge vor allem zwischen den Formteilen. Etwa am Beginn des "Sanctus", wo Gardiner im Adagio - "Mit Andacht", schreibt Beethoven - die Zeit staut, um sie dann im "Pleni sunt coeli" abschnurren zu lassen wie ein sich fröhlich entwirrendes Wollknäuel.

Die Stimmen flitzen wie Rennwagen durch die Kurven der Fuge

Ausgestellte Effekte sucht man dafür vergebens, selbst die Kriegstrommeln und -trompeten im "Agnus Dei", oft als eher pittoreske Kriegskulisse inszeniert, interessieren Gardiner nicht sonderlich. "Alles fließt" könnte über dieser Aufführung stehen. Über dieses Fließen aber entsteht Leichtigkeit, ist deutlicher zu spüren als sonst, dass Beethoven neben dem grimmigen Ringen mit dem Glauben auch kindliche Freude daran kannte. Am deutlichsten in der Schlussfuge des "Credo", in der Gardiner die besungene "vita venturi saeculi", das Leben nach dem Ende aller Zeiten, zu einem Paradiesesrausch werden lässt, an dem man lieber heute als morgen teilhaben würde. Dass das rasante Tempo den BR-Chor nicht aus der Bahn wirft, sondern die Stimmen wie Rennwagen durch die Kurven der Fuge flitzen lässt, entlockt selbst den Solisten ein Lächeln.

Gardiner hat sie an der Seite rechts hinter den zweiten Violinen postiert, statt wie gewohnt vorn, wo sie die meiste Zeit dann nur feierlich herumstehen. Ihre Stimmen fließen so ein ins Ensemble, auch wenn man schon homogenere Besetzungen des Quartetts gehört hat. Die Sopranistin Lucy Crowe überstrahlt es oft mit ihrem hellen, eher geradlinigen Sopran, der die unangenehmen Höhen gut bewältigt, sich aber manchmal nur mit Schwierigkeiten hinaufwindet. Julian Prégardien kommt mit seinem markanten, gleichwohl differenziert gestaltenden Tenor gut dagegen an, während die Altistin Gerhild Romberger wohl ein bisschen plötzlich für Ann Hallenberg eingesprungen ist. Auch Tareq Nazmi bleibt lange eher im Hintergrund, singt seinen Soloeinsatz im "Agnus Dei" aber mit rundem, vollem und profundem Bass aus. Radoslaw Szulc, Konzertmeister der BR-Symphoniker, spielt das Violinsolo im "Benedictus" sauber und mit feinem Ton, könnte es aber eigenständiger gestalten, den Bogen stärker über das gesamte Stück hinweg spannen.

Überhaupt bleibt ein gewisser Wermutstropfen bei den BR-Symphonikern, der der schwierigen letzten Saison geschuldet sein dürfte: Es sind deutlich mehr Wackler zu hören als früher. Das Streicherkorps klingt nicht immer homogen, in langsamen Passagen wie dem "Incarnatus est" im "Credo" greifen die Stimmen nicht sicher ineinander. In solchen Momenten ahnt man, welche Folgen die erzwungene Auszeit für viele vormals gut aufeinander eingespielte Ensembles hat. Der gelungene Saisonauftakt ist da immerhin ein gutes Omen für die Zukunft der BR-Symphoniker.

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