Klassik:Bach im Bayreuth-Sound

Bachfest; Bachfest

Das Festivalabschlusskonzert in der Leipziger Thomaskirche mit der h-Moll-Messe wird dirigiert von David Stern.

(Foto: Gert Mothes)

Knabenchöre, gar keine Chöre: Das Leipziger Bachfest würdigt das Werk des Übervaters.

Von Helmut Mauró

Zehn Tage lang Musik von Johann Sebastian Bach an zum Teil originalen Schauplätzen in Leipzig, in 158 Veranstaltungen von vormittags bis spät in die Nacht - wer soll das alles hören wollen? Um genau zu sein: 73 000 Menschen aus mehr als vierzig Ländern. Denn es geht beim Bachfest Leipzig nicht allein um die Aufführung der Werke des Großmeisters, sondern auch um den begleitenden Diskurs, also um praktische Fragen, Besetzungsprobleme, Originalklang und anderes mehr. In einer der vielen Gesprächsrunden äußerte sich der Bachfestintendant und Musikforscher Michael Maul zu der nach wie vor anhaltenden und leidenschaftlich kontrovers geführten Diskussion darüber, wie groß der Chor bei Bach nun zu besetzen sei und plädierte für eine 8+-Lösung. Denn von einem Solistenquartett plus verstärkenden weiteren Sängern kann man auf jeden Fall ausgehen, alles Weitere hing von den jeweils aktuellen Möglichkeiten ab. Zum Teil waren ausreichend gute Sänger vorhanden. Meistenteils offenbar aber nicht, so steht das in den Klagen Bachs an den Leipziger Rat.

Geht es bei heutigen Aufführungen um eine Idealbesetzung oder um die historisch korrekte? Schon daran scheiden sich die Geister. Viele Lösungen sind möglich, vielleicht sogar nötig, um den gerechtesten und vielleicht wahrsten aller Zustände zu erreichen, nämlich den einer kreativen Ungewissheit. In solch einem Zustand scheint sich auch der junge Bach befunden zu haben, wie man schon im ersten Festivalkonzert mit seinen Weimarer Kantaten erleben konnte, hervorragend geboten vom Thomanerchor unter Leitung seines Kantors Gotthold Schwarz.

Allein die Tatsache, dass man das Handwerk des Musizierens nicht mehr optisch mitverfolgen kann, macht einen fundamentalen Hörunterschied: Man ist mehr bei der Musik und bei sich.

Um den jungen Bach ging es beim diesjährigen Bachfest ganz besonders, um den experimentierfreudigen, den kraftstrotzenden, euphorischen, selbstbewussten, ambitionierten. Mit 23 Jahren und frisch verheiratet war er bereits auf einer Karrierestufe angekommen, die andere erst viel später, wenn überhaupt erreichten. Als Weimarer Hoforganist bewarb er sich in Halle, und mit der dortigen Vertragszusage erreichte er die Beförderung zum Konzertmeister in Weimar. Dort musste er einmal im Monat eine Kirchenkantate abliefern. Die 20 Kantaten aus dieser Zeit gehören zu den interessantesten, weil sie noch viele Möglichkeiten der Gestaltung zeigen, formal und klanglich, die später einem routinierten Ideal wichen.

Dazu kommt die besondere Aufführungssituation in Weimar. Die turmartige Kapelle mit abschließender Kuppel bot den auf der dritten Empore platzierten Musikern die Möglichkeit, ganz aus dem Unsichtbaren heraus zu wirken, den Klang wie von Gotteshand herabregnen zu lassen. Leider fiel die Kapelle 1774 dem großen Schlossbrand zum Opfer, aber es gibt ein Schwesterbauwerk im Schloss Neuaugustusburg von Weißenfels. Das dortige, solistisch nicht bestens besetzte Konzert mit dem etwas drögen Ricercar Consort unter Leitung von Philippe Pierlot vermittelte dennoch einen Eindruck davon, in welchen raumklanglichen Möglichkeiten Bach seine Weimarer Kantaten entwickelt hat und wie sie auf die staunende Gemeinde gewirkt haben müssen.

Allein die Tatsache, dass man das Handwerk des Musizierens nicht mehr optisch mitverfolgen kann, dass auch die Akteure im Dunkeln bleiben, macht einen fundamentalen Hörunterschied: Man ist mehr bei der Musik und bei sich. Es entstehen neue Aufmerksamkeitsräume für die textlichen Inhalte. Nichts lenkt davon ab. In ganz ähnlicher Weise, mit ebensolchem Effekt, probierte man in der Leipziger Thomaskirche, der langjährigen Hauptwirkungsstätte Bachs, eine quasi historische Choraufstellung.

Die extrem ausgearbeiteten Fugen, die in der h-Moll-Messe bewältigt werden müssen, gehören zum höchsten Standard der Chorliteratur.

Im Barock gab es keine großen Chöre hinter einem Orchester. Auf der damals noch kleineren Chorempore stand der Chor, darüber, rechts und links von der Orgel, zwei Instrumentalensembles, Stadtpfeifer und Turmbläser. Für das Abschlusskonzert des Festivals postierte man den Tölzer Knabenchor an der Balustrade, das Orchester dahinter. Was zu erstaunlich positiven Klangüberraschungen führte. Diesmal nicht mit einer Weimarer Kantate, sondern, und das ist quasi das alljährliche Amen des Bachfestes: mit der großen, ehrwürdigen, in seiner ganzen Pracht und intellektuellen Größe immer wieder staunenswerten h-Moll-Messe.

Vor einigen Jahren hat sie der Tölzer Knabenchor in der Thomaskirche schon einmal bravourös und mit Knabensolisten geboten. Dieses Mal aber setzte man dabei auf keine Knabenstimmen, sondern auf erwachsene Solisten, die allerdings keinerlei Originalklangambitionen hegten. Insbesondere der schwergewichtige, opulente Mezzo von Adèle Charvet würde zwar jedes Opernhaus schmücken, wirkte in der Thomaskirche aber recht überambitioniert.

Die Chorpartien sind in dieser zweistündigen Messe höchst anspruchsvoll. Kein Vergleich mit Bachs Kantaten, Weihnachtsoratorium und Matthäuspassion eingeschlossen. Die extrem ausgearbeiteten Fugen, die in der h-Moll-Messe bewältigt werden müssen, gehören zum höchsten Standard der Chorliteratur. Wenn da alles sauber und exakt kommen und am Ende so klingen soll, dass jeder alles textinhaltlich und musikalisch verstanden hat, dann braucht man dafür schon sehr gute Sänger und auch eine solide Probenarbeit. Doch manchmal wird man selbst dann von der Wirklichkeit überrumpelt. Denn leider trieb Dirigent David Stern den Chor immer wieder - am auffallendsten sicherlich im "Et resurrexit" - in zum Teil absurd rasende Tempi und rauschhafte Lautstärken.

Es stellte sich eine Art Bayreuth-Effekt ein: Der Hörer wird mit Raumklangrede erfüllt, stellenweise vielleicht auch: abgefüllt.

Aber der Schalldruck allein macht noch keine Musik. Wenn der massive Klang nicht mit einer inneren Ausdrucksstärke einhergeht, wirkt er stets übertrieben, zumindest unangemessen. Der Tölzer Knabenchor war einst dafür bekannt und beliebt, dass er eine kraftvoll-plastische, im besten Sinne körperliche Musiksprache kultivierte, die nicht primär auf Lautstärke, sondern auf der Logik von Artikulation und semantischer Stringenz aufbaute. Ein auch physisch kraftvolles Auftreten kann dann synergetische Effekte bringen, ohne die kultivierte musikalische Basis aber funktioniert es nicht, und schlimmstenfalls verkehrt sich die Wirkung ins Gegenteil, verliert an Genauigkeit und Sinnhaftigkeit der Artikulation.

Schade, denn an den Möglichkeiten des Chores lag es erkennbar nicht, wie man verschiedenen sprechenden, fast meditativen Pianostellen entnehmen konnte, dass einige Chornummern dann beinahe ins rein Artistische abglitten. David Stern vertritt mit seinem Instrumentalensemble Opera Fuoco eine sehr französische Tradition, in der eine kontemplative Ebene bedeutsam ist, als Gegensatz dazu aber auch ein rauschhaftes Vorwärtsstürmen - Gebet und Revolution sind hier zwei voneinander abhängige Größen. Die Platzierung des Chores vor dem Orchester dagegen funktionierte bestens, auf einmal war der ganze Kirchenraum erfüllt von Klang, sodass sich, wie schon in der Schlosskapelle Weißenfels, in der Thomaskirche aber schlichtweg überwältigend, nicht nur ein anderer Klangeindruck einstellte, sondern eine grundsätzlich andere Haltung.

Man konnte die Musik nicht mehr lokalisieren, die Herkunft schien fast schon mystisch verschleiert, die Aufmerksamkeit war weg von den Musikern ganz hin auf die Musik gelenkt und schließlich auf einen selber. Es stellte sich eine Art Bayreuth-Effekt ein: Der Hörer wird mit Raumklangrede erfüllt, stellenweise vielleicht auch: abgefüllt. In jedem Fall führt es zu erhebenden bis erhabenen Gefühlen, bei manchen auch zu bierzeltartiger Hemmungslosigkeit, die in lärmenden Applaus mündete.

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