Klassik:Antworten aus dem Instrument

BR-Symphoniker

Dohnányi erscheint eher wie ein Zeitgenosse der gegenwärtigen Generation, die analytische und emotionale Durchdringung wieder unter einen musikalischen Hut zu bringen sucht.

(Foto: Peter Meisel)

Nach 30 Jahren kehrt Christoph von Dohnányi ans Pult der BR-Symphoniker zurück.

Von Michael Stallknecht

In den meisten Konzertprogrammen der großen Symphonieorchester spielt Musik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis heute keine nennenswerte Rolle. Das ist auch beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in München nicht anders, das seine großen Fähigkeiten in diesem Bereich auf die Musica Viva konzentriert, während die regulären Abonnementkonzerte fast ausnahmslos dem klassisch-romantischen Repertoire gewidmet bleiben.

Dass nun im Herkulessaal György Ligetis Doppelkonzert für Flöte und Oboe erklang, ist wohl dem Dirigenten Christoph von Dohnányi geschuldet, der bereits die Uraufführung mit den Berliner Philharmonikern im Jahr 1972 realisiert hat. Dohnányi, der in diesem Jahr neunzig Jahre alt wird, war schon ein "moderner" Dirigent, als solche Prädikate noch nicht floskelhaft klangen, nicht nur in seiner Repertoirewahl, die Musik des 20. Jahrhunderts immer selbstverständlich mitumfasste, sondern auch in einem Dirigierstil, der ohne alle Posen auskommt. Mit wenigen Gesten, so unaufwendig wie präsent leitet er die BR-Symphoniker von einem Dirigentenstuhl aus, als er nun nach gut dreißig Jahren erstmals an deren Pult zurückkehrt. Aus souveräner Ruhe darf sich zu Beginn die leise Streicherfläche von Charles Ives' "The Unanswered Question" entfalten, in die hinein der Solotrompeter Martin Angerer aus dem fernen Foyer die titelgebende unbeantwortete Frage sendet.

Das kurze, aber ikonische Stück der frühen Moderne bildet die perfekte Einleitung für Ligetis Doppelkonzert, dessen langsamer erster Satz ebenfalls mit einem Ruhezustand aus einander überlagernden Liegetönen beginnt, bevor sich diese im schnellen zweiten Satz in engmaschige Repetitionen verwandeln. Man muss sich das nicht im Sinne des herkömmlichen Tempokontrasts vorstellen, sondern eher wie eine Wasserfläche, die von innen heraus in Bewegung gerät. Ebenso wie der Soloflöte und der Solooboe bei Ligeti nicht die herkömmliche Virtuosenrolle zufällt, sondern sie Teil des Orchesterklangs bleiben, der mit einer kammermusikalischen Besetzung aus relativ vielen Bläsern und relativ wenigen Streichern ohne Violinen weich timbriert ist. Dem Flötisten Henrik Wiese und dem Oboisten Tobias Vogelmann, beide feste Mitglieder der BR-Symphoniker, gesellen sich je drei weitere Orchesterflöten und -oboen bei, so dass sie oft kaum solistisch hörbar werden, obwohl sie technisch durchaus virtuos gefordert sind. Sie tauchen ein in das Wasser, dürfen manchmal die Köpfe herausstecken, um wieder darin zu versinken.

"Erst was Modernes und was Klassisches, und zum Schluss dann den Gassenhauer - das ist nicht in meinem Sinn", hat Dohnányi vorab in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk gesagt. Dabei könnte das Programm ganz danach aussehen, folgt auf Ives und Ligeti doch Peter Tschaikowskys ebenso bekannte wie beliebte Sechste Symphonie. Doch man hört die "Pathétique" tatsächlich anders nach dieser ersten Hälfte, nicht mehr nur als Seelenbekenntnis von romantischer Zerrissenheit, das Tschaikowsky in tatsächlicher oder vermeintlicher Vorahnung seines nahenden Todes ablegte. Wenn Dohnányi die Einleitung in größtmöglicher Langsamkeit beginnt, dann klingt darin etwas von der Ruhe bei Ives fort, von der in Bewegung geratenden Fläche bei Ligeti, dann hört man Tschaikowsky struktureller als sonst, als formales Spiel aus Ruhe und Bewegung. Dass Dohnányis Dirigierstil darum häufig als analytisch bezeichnet wurde, erweist sich dabei als so richtig wie falsch zugleich. Denn leidenschaftlicher als an diesem Abend kann man die Pathétique kaum musizieren, Dohnányi macht aus romantischen Gefühlsexzessen keineswegs einen Akt neuer Sachlichkeit. Niedergeschlagenheit und weltflüchtiges Träumen, Angstzustände und manischer Überschwang brechen über das gefesselte, am Ende in Begeisterung entfesselte Publikum im Herkulessaal herein. Aber Dohnányi entfaltet sie mit äußerster Genauigkeit aus den vielen kleinen Binnendynamiken, den vielen kleinen Temposchwankungen, die in der Partitur akribisch notiert sind, wobei ihm die Wendigkeit, die Akkuratesse der BR-Symphoniker selbst in raschesten Passagen zugutekommt. Daraus entsteht eine innere Bewegtheit, ereignen sich unvorhergesehene Tempoumschläge, die leidenschaftlicher wirken, als es ein im Dauervibrato bebender Streicherapparat je könnte. Präzise Phrasierungen und ein zügiges Tempo lassen zumal im zweiten Satz nie den Überdruss des beliebten Wunschkonzertstücks aufkommen, nähern das "Allegro con grazia" stattdessen der "Grazie" seiner italienischen Vorbilder an. Der Marsch des dritten Satzes wird mit rhythmischer Verve auf den Punkt gebracht, niederschmetternde Wucht paart sich so mit Eleganz. Bei Dohnányi erfährt man neu auch die Zerrissenheit Tschaikowskys, die sich zwischen dem Willen zur Entäußerung und dem zur Wahrung der Form abspielte, zwischen der romantischen Selbstauslieferung und einer klassizistischen Klarheit. Kein dirigierender Doyen ist dabei respektvoll zu bewundern, Dohnányi erscheint eher wie ein Zeitgenosse der gegenwärtigen jüngeren Dirigentengeneration, die analytische und emotionale Durchdringung wieder unter einen musikalischen Hut zu bringen sucht.

Wenn die Trauer des langsamen Schlusssatzes in den stockenden Triolenachteln der Kontrabässe verklingt, dann endet dieser Abend, wie er begonnen hat: mit einer unbeantworteten Frage. Da spürt man noch einmal, wie klug dieses Programm ist, nicht im Sinne eines dramaturgischen Überbaus, sondern im Sinne einer die Epochen übergreifenden musikalischen Sensibilität. Bleibt nur zu hoffen, dass Christoph von Dohnányi möglichst bald ans Pult der BR-Symphoniker zurückkehrt.

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