Zuletzt liegt der Liebende und Gelsüchtling Hermann selbstgemordet vor dem so langen wie tristen Tisch einer versoffenen Hobbyzockergang, sein Rivale dreht verächtlich die Leiche mit dem Fuß um, der Chor singt inbrünstig ein Gebet. Ist es das Ende eines Spielers oder eines zu groß Liebenden? Das wunderliche Verhältnis von Geld und Liebe hat die Opernkomponisten immer wieder fasziniert. Das fängt an bei Claudio Monteverdis "Poppea", da gilt wie auch für Wolfgang A.Mozarts "Figaro" die Gleichung Geld=Macht, bestimmt Giuseppe Verdis "Traviata" genauso wie Richard Wagners "Ring", erreicht seinen Höhepunkt in Pjotr Tschaikowskys letzter großer Oper "Pique Dame", die deshalb so grandios ist, weil Großdichter Alexander Puschkins raffiniert Shakespeare mit Schauerromantik, Gesellschaftsanalyse und Liebespsychologie vermengende Vorlage den Komponisten zu einer sich in archaischer Unentrinnbarkeit verdichtenden Musik inspiriert hat, die Folklore, Mozart-Parodie, Kirchenmusik und Belcanto genauso kennt wie Pathos, Grusel, Kolportage, Tiefenpsychologie und romantische Brüchigkeit.
In Baden-Badens Festspielhaus kümmern sich Dirigent Kirill Petrenko und seine Berliner Philharmoniker mit Akribie um jedes dieser Momente. Ihre Auffächerung der Lautstärken, Verzögerungen, Klangfarben rückt die Partitur in die Nähe der Klangtüfteleien von Gustav Mahler, der sich nicht nur in seiner neunten Sinfonie als begeisterter Tschaikowsky-Fortsetzer zeigt. Petrenko beatmet die Partitur, er erweckt sie wie einen Golem zum Leben, er macht alles Befremdliche, Skurrile und Überzogene verständlich, ohne es zu nivellieren, zu bagatellisieren, zu entschlacken. Diesen Überfluss an Details und modernem Klangdenken kombiniert Petrenko mit einem mühelos aus den leisesten Gespinsten heraus aufgeputschten Klangorgien, mit einer tobenden Leidenschaft, mit einer Lust an lang gesponnenen Kantilenen, dunklen Klangabgründen. Hier ist einfach alles da. Und quasi nebenbei trägt er seinen Sänger und den fabelhaften Slowakischen Philharmonischen Chor auf Händen.
Arsen Soghomonyan singt den Loser Hermann mit lyrisch klangfarbigen Tenor, kraftvoll, aber immer vom Scheitern bedroht
Kein Wunder, dass das Publikum, das Haus ist nicht ganz voll besetzt, Petrenko und die Philharmoniker stürmisch feiert. Die beiden letzten Osterfestspiele in Baden-Baden sind der Seuche zum Opfer gefallen, jetzt kann erstmals wieder große Oper gespielt werden. Intendant Benedikt Stampa hat das Haus kurz vor der Seuche übernommen, jetzt strahlt er überglücklich bei seiner Kurzansprache und sagt auch: "Wir haben schon Tschaikowsky gehört, bevor es Putin gab." Während manch andere Orchester und Häuser russische Stücke vom Programm nahmen, zeigen sich Festspielhaus und Philharmoniker davon unbeeindruckt. Zwar wurde ein Konzert mit der Putin-nahen Anna Netrebko storniert, zwar verweigerte der ukrainische Botschafter in Deutschland den Besuch eines Ukraine-Solidaritätskonzerts der Philharmoniker bei Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, weil da nur russische Solisten auftraten. Aber das sind Einzelfälle. Russische Musik ist nicht nur bei den Baden-Badener Osterfestspielen unverzichtbar. Kein Orchester der Welt kann und will auf Strawinsky, Tschaikowsky, Prokofiev, Mussorgsky, Rachmaninoff oder Gubaidulina verzichten, weil deren Stücke fester Bestandteil des publikumswirksamen Repertoires sind.

Arsen Soghomonyan singt den Loser Hermann mit lyrisch klangfarbigen Tenor, kraftvoll, aber immer vom Scheitern bedroht, mal brütend, mal ausbrechend, ganz Spielball seine Lüste und Wahnvorstellungen. Er liebt Lisa, die für ihre große Liebe Hermann alles aufgibt, Ehe, Reichtum und Sicherheit: Elena Stikhina gibt diese aufgebehrende moderne Frau bodenständig direkt selbstverständlich. Doch Hermann driftet in den Wahn ab, zuletzt hat er drei Morde auf dem Gewissen. Arsen Soghomonyan zeigt zwingend den Absturz eines Unglücklichen in die Haltlosigkeit und den Irrsinn, Petrenko und die Seinen befeuern diesen Niedergang mit einer Musik, die um die Verzweiflung und Ängste eines Ausgegrenzten wissen. Leider interessiert sich das Regieteam Moshe Leiser / Patrice Caurier kaum für die Abgründe dieser Oper. Sie lassen mit varieté-artiger Unbefangenheit in einem Bordell spielen, provozieren (Tschaikowsky war schwul) mit einer Schwulenszene ein paar Buhrufe und überlassen den psychologischen Tiefgang den Sängern, Musikern und Petrenko.