Vor drei Jahren war es diese abermalige Symphonie der Kirche und des Staates, gegen die die Frauen von Pussy Riot ihr Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale anstimmten. Pussy Riot rebellierten nicht gegen Gott, nicht einmal gegen die Institution Kirche, sondern gegen einen Staatschef, der diese Kirche instrumentalisiert. Putin erkannte sofort, worum es ging - im Gegensatz zu den frommen Aktivisten, die durch den lärmenden Auftritt im wichtigsten Gotteshaus der russischen Orthodoxie ihre Gefühle verletzt sahen. Putin fühlte sich herausgefordert, anders kann man die Lagerstrafe gegen zwei junge Frauen nicht erklären.
Die Orthodoxie ist der mächtigste Pfeiler von Putins imperialer Neurussland-Ideologie. Wie jede Ideologie wackelt auch seine, das liegt in der Natur der Sache. Merkwürdig ist, dass Putin zu einem ihm eigentlich fremden Gedankengut greift, um eine Neuauflage jener zaristischen Triade "Rechtgläubigkeit - Autokratie - Volkstümlichkeit" zu untermauern, die einst als Antwort auf die französische Zauberformel "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ersonnen wurde. Putin bedient sich zum Beispiel beim Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew.
Die Vereinnahmung von Bardajew erweist sich als intellektuelle Grabschändung
Berdjajew wurde 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen, ein gläubiger und kluger Mensch, der über das Wesen der Freiheit nachdachte. Dem Priesterseminarschüler Josef Stalin blieb er zeit seines Lebens unheimlich. Berdjajew starb 1949 im Pariser Exil.
Kurz vor der Annexion der Krim zitierte Wladimir Putin nun aus Berdjajews Werk "Philosophie der Ungleichheit": "Der Sinn des Konservatismus besteht nicht darin, die Bewegung nach vorne und nach oben zu bremsen, sondern die Bewegung nach hinten und nach unten zu verhindern." Das klingt nach Aussöhnung mit einem zu Unrecht hinausgeekelten Autokratie-Theoretiker, erweist sich aber als intellektuelle Grabschändung, wenn man Berdjajew denn liest.
Im Aufsatz "Über die Knechtschaft und die Freiheit des Menschen" warnte er 1939: "Ein totalitärer Staat will selbst Kirche sein, er will Menschenseelen organisieren, über sie herrschen, über das Gewissen und die Gedanken herrschen, und er lässt keinen Platz für die Freiheit des Geistes."
Verzweifelte Suche nach staatlicher Spiritualität
Anstatt sich auf Berdjajew zu berufen, hätte Putin genug Gründe, dessen Bücher auf den Index zu setzen. Berdjajew fragt, wieso all die christlichen Tugenden, die von Menschen verlangt werden, plötzlich irrelevant werden, sobald es um Staaten geht: "Was gewinnt denn das Reich Gottes durch organisierte Lüge, organisierte Spionage, Hinrichtungen, räuberische Kriege, durch Besetzung fremder Länder und Vergewaltigung von Völkern, durch zunehmenden nationalen Egoismus und nationalen Hass, durch ungeheuerliche soziale Ungleichheit und Herrschaft des Geldes?"
Berdjajew taugt also nicht die Bohne als Vordenker des Putinismus. Und doch sollte man die verzweifelte Suche des Kreml nach staatlicher Spiritualität im Hinterkopf behalten, wenn man auf all die Skandale blickt, die sich rund um die orthodoxe Kirche ereignen.
Ein Priester empörte sich über eine Inszenierung von Puschkins "Schneesturm"
Die beleidigten Christen, die Blasphemie bekämpfen, sind gut organisiert und oft muskulös. Es gibt den Verein "Kampf-Sambo Orthodoxer Bürger" (Sambo ist eine in der Sowjetunion entwickelte, Judo-ähnliche Sportart); es gibt die Kosaken mit ihren Peitschen; es gibt den kremltreuen Biker-Club Nachtwölfe. Es scheint, als hätte die Kirche die ideologische Aufsichtsfunktion der Kulturabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der UdSSR übernommen. Seit 2013 wird die "Beleidigung religiöser Gefühle" strafrechtlich geahndet.
Immerhin: Das "Tannhäuser"-Verfahren in Nowosibirsk wurde gerade eben eingestellt - es hatte sich Protest dagegen geregt, dem sich auch staatstreue Künstler angeschlossen hatten. Man kann zwar davon ausgehen, dass jedes Gericht in Russland vom Staat kontrolliert wird, aber religiös Beleidigte können nicht davon ausgehen, dass jeder ihrer Klagen stattgegeben wird. Die Kirche selbst tritt selten als Kläger auf und distanziert sich von einigen Beschwerden, wie der eines Priesters, der sich über eine Inszenierung von Puschkins "Schneesturm" empört. Es gibt aufmüpfige Geistliche wie den Moskauer Diakon Andrej Kurajew, der sich für Pussy Riot wie für die Nowosibirsker Oper einsetzt und über schwule Priester spricht.
Im Ringen um eine neue, großrussische autokratische Allianz zwischen Kirche und Staat ist die Kultur umkämpft, aber noch nicht verloren. Die wichtigsten Konflikte finden ohnehin in den Köpfen der Laien statt, die weder Prozesse gegen Künstler noch einen heiligen Krieg in der Ukraine befürworten. Die innerlich gegen das ankämpfen, was Berdjajew einst "die größte versklavende Kraft" nannte: die Versuchung der Herrschaft.