Manchmal muss sich Russlands Präsident Wladimir Putin wohl für seine glühendsten Bewunderer fremdschämen. Witalij Milonow, ein Abgeordneter des Sankt Petersburger Stadtparlaments und ein sehr gläubiger Mensch ("Wir orthodoxe Christen sind im Besitz der absoluten Wahrheit") nahm vor ein paar Jahren an einem Streitgespräch mit einem Atheisten teil. Der Atheist fragte ihn, wie Milonow sich rechtgläubig nennen könne, wenn er nicht einmal die Werke des Heiligen Pygidium gelesen habe. Milonow entgegnete, selbstverständlich habe er sie gelesen.
Ein Heiliger Pygidium habe aber nie gelebt, merkte der Atheist an. Pygidium heißt auf Latein der hinterste Körperteil bei Ringelwürmern und Käfern, auf deutsch: Afterdecke.
Der Abgeordnete Milonow trat daraufhin nicht zurück. Er bleibt aktiv und findet dank Staatsmedien auch landesweite Beachtung. Er besprüht Schwule und Lesben auf der Straße mit Brillantgrün, einem in Russland verbreiteten Antiseptikum. Er sammelt Hilfe für Separatisten in der Ukraine, er posierte im Donbass mit einem Flammenwerfer, in einem über den opulenten Bauch gespannten T-Shirt mit der Aufschrift: "Rechtgläubigkeit oder Tod".
Radikale Christen tragen Kulturkampf in die schönen Künste
Milonow gehört zu jenen Christen, die den Kulturkampf in Russland immer wieder in die schönen Künste tragen. Er verhinderte in Petersburg ein Konzert der erfolgreichsten ukrainischen Band Okean Elsy. Die Band singt überwiegend über Liebe, aber eben in der Sprache des Feindes.
An die breite Öffentlichkeit gelangen ohnehin vor allem Geschichten von tatkräftigen Gläubigen, die Ausstellungen und Theateraufführungen stürmen, die sie als blasphemisch empfinden. Künstler landen auf der Anklagebank. Zuletzt mussten der Intendant und ein Regisseur der Nowosibirsker Oper (vier Flugstunden östlich von Moskau) vor Gericht, weil der dortige Metropolit sich an ihrer "Tannhäuser"-Inszenierung störte. Dem Geistlichen gefiel nicht, dass sich der Held als Jesus verkleidet mit der Liebesgöttin Venus trifft. Milonow hat schon versucht Madonna, Rammstein und Lady Gaga wegen "Propaganda der Homosexualität" zu verklagen.
Eigentlich verkörpert der fromme Abgeordnete etwas, woran Wladimir Putin seit Jahren werkelt: den Bund zwischen Staat und Kirche. Aber als Vorbild taugt der Leser des Heiligen Pygidium nicht. Noch bitterer für Putin: Als moralisches, von Wählern und Kirchgängern mehrheitlich akzeptiertes Vorbild taugt auch im unmittelbaren Dunstkreis des Kreml niemand.
"Ein totalitärer Staat will selbst Kirche sein, er will Menschenseelen organisieren, über sie herrschen."
Patriarch Kyrill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche? Er kommt gerne in den Kreml. Aber der Patriarch wurde schon mal mit einer 30 000 Euro-Breguet-Uhr fotografiert (peinlich), und er ließ diese Uhr nachträglich wegretuschieren (kontraproduktiv in Zeiten des Internets). Wladimir Putin selbst vielleicht? Er zündet gerne Kerzen in Kirchen an. Aber er blickt auch stolz und dankbar auf eine Karriere beim religionsfeindlichen KGB zurück.
Es ist ein ziemliches Dilemma für Staatschef und Patriarch. Kreml und Kirche sind zwar unter Wladimir Putin innigst miteinander verwachsen, so wie sie es zuletzt nur im Zarenreich waren. Der Kreml schätzt diese Symbiose, weil sie zusätzlichen Einfluss auf Bürger mit sich bringt; viele Menschen öffnen sich beim Beten nicht weniger als beim Fernsehen. Die Kirche wiederum erhofft sich eine endgültige Überlegenheit gegenüber konkurrierenden Konfessionen und noch wichtiger: gegenüber jedem, der auf den Gedanken kommen könnte, Religion sei Opium fürs Volk. Der Chef der PR-Abteilung der russisch-orthodoxen Kirche spricht deswegen von einer "Symphonie der Kirche, des Staates und der Gesellschaft".
Nur fehlt dieser Symphonie im 21. Jahrhundert jegliche Glaubwürdigkeit. Sie klingt schief. Noch schiefer sogar als unter Peter dem Großen im 18. Jahrhundert, als das Amt des Patriarchen abgeschafft wurde und die Kirche durch die Heilige Synode, eine staatliche Behörde, gelenkt wurde, wobei jeder in dieser Hierarchie wusste, woran er war. Im 19. Jahrhundert noch segnete die Kirche Leibeigenschaft als gottgewollt ab; die meisten Russen (das waren die leibeigenen Bauern) konnten weder lesen noch schreiben. Heute können beinahe alle Russen lesen und schreiben, dank der Bildungsreform der Sowjets.
Vor drei Jahren war es diese abermalige Symphonie der Kirche und des Staates, gegen die die Frauen von Pussy Riot ihr Punkgebet in der Christ-Erlöser-Kathedrale anstimmten. Pussy Riot rebellierten nicht gegen Gott, nicht einmal gegen die Institution Kirche, sondern gegen einen Staatschef, der diese Kirche instrumentalisiert. Putin erkannte sofort, worum es ging - im Gegensatz zu den frommen Aktivisten, die durch den lärmenden Auftritt im wichtigsten Gotteshaus der russischen Orthodoxie ihre Gefühle verletzt sahen. Putin fühlte sich herausgefordert, anders kann man die Lagerstrafe gegen zwei junge Frauen nicht erklären.
Die Orthodoxie ist der mächtigste Pfeiler von Putins imperialer Neurussland-Ideologie. Wie jede Ideologie wackelt auch seine, das liegt in der Natur der Sache. Merkwürdig ist, dass Putin zu einem ihm eigentlich fremden Gedankengut greift, um eine Neuauflage jener zaristischen Triade "Rechtgläubigkeit - Autokratie - Volkstümlichkeit" zu untermauern, die einst als Antwort auf die französische Zauberformel "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ersonnen wurde. Putin bedient sich zum Beispiel beim Religionsphilosophen Nikolaj Berdjajew.
Die Vereinnahmung von Bardajew erweist sich als intellektuelle Grabschändung
Berdjajew wurde 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen, ein gläubiger und kluger Mensch, der über das Wesen der Freiheit nachdachte. Dem Priesterseminarschüler Josef Stalin blieb er zeit seines Lebens unheimlich. Berdjajew starb 1949 im Pariser Exil.
Kurz vor der Annexion der Krim zitierte Wladimir Putin nun aus Berdjajews Werk "Philosophie der Ungleichheit": "Der Sinn des Konservatismus besteht nicht darin, die Bewegung nach vorne und nach oben zu bremsen, sondern die Bewegung nach hinten und nach unten zu verhindern." Das klingt nach Aussöhnung mit einem zu Unrecht hinausgeekelten Autokratie-Theoretiker, erweist sich aber als intellektuelle Grabschändung, wenn man Berdjajew denn liest.
Im Aufsatz "Über die Knechtschaft und die Freiheit des Menschen" warnte er 1939: "Ein totalitärer Staat will selbst Kirche sein, er will Menschenseelen organisieren, über sie herrschen, über das Gewissen und die Gedanken herrschen, und er lässt keinen Platz für die Freiheit des Geistes."
Verzweifelte Suche nach staatlicher Spiritualität
Anstatt sich auf Berdjajew zu berufen, hätte Putin genug Gründe, dessen Bücher auf den Index zu setzen. Berdjajew fragt, wieso all die christlichen Tugenden, die von Menschen verlangt werden, plötzlich irrelevant werden, sobald es um Staaten geht: "Was gewinnt denn das Reich Gottes durch organisierte Lüge, organisierte Spionage, Hinrichtungen, räuberische Kriege, durch Besetzung fremder Länder und Vergewaltigung von Völkern, durch zunehmenden nationalen Egoismus und nationalen Hass, durch ungeheuerliche soziale Ungleichheit und Herrschaft des Geldes?"
Berdjajew taugt also nicht die Bohne als Vordenker des Putinismus. Und doch sollte man die verzweifelte Suche des Kreml nach staatlicher Spiritualität im Hinterkopf behalten, wenn man auf all die Skandale blickt, die sich rund um die orthodoxe Kirche ereignen.
Ein Priester empörte sich über eine Inszenierung von Puschkins "Schneesturm"
Die beleidigten Christen, die Blasphemie bekämpfen, sind gut organisiert und oft muskulös. Es gibt den Verein "Kampf-Sambo Orthodoxer Bürger" (Sambo ist eine in der Sowjetunion entwickelte, Judo-ähnliche Sportart); es gibt die Kosaken mit ihren Peitschen; es gibt den kremltreuen Biker-Club Nachtwölfe. Es scheint, als hätte die Kirche die ideologische Aufsichtsfunktion der Kulturabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der UdSSR übernommen. Seit 2013 wird die "Beleidigung religiöser Gefühle" strafrechtlich geahndet.
Immerhin: Das "Tannhäuser"-Verfahren in Nowosibirsk wurde gerade eben eingestellt - es hatte sich Protest dagegen geregt, dem sich auch staatstreue Künstler angeschlossen hatten. Man kann zwar davon ausgehen, dass jedes Gericht in Russland vom Staat kontrolliert wird, aber religiös Beleidigte können nicht davon ausgehen, dass jeder ihrer Klagen stattgegeben wird. Die Kirche selbst tritt selten als Kläger auf und distanziert sich von einigen Beschwerden, wie der eines Priesters, der sich über eine Inszenierung von Puschkins "Schneesturm" empört. Es gibt aufmüpfige Geistliche wie den Moskauer Diakon Andrej Kurajew, der sich für Pussy Riot wie für die Nowosibirsker Oper einsetzt und über schwule Priester spricht.
Im Ringen um eine neue, großrussische autokratische Allianz zwischen Kirche und Staat ist die Kultur umkämpft, aber noch nicht verloren. Die wichtigsten Konflikte finden ohnehin in den Köpfen der Laien statt, die weder Prozesse gegen Künstler noch einen heiligen Krieg in der Ukraine befürworten. Die innerlich gegen das ankämpfen, was Berdjajew einst "die größte versklavende Kraft" nannte: die Versuchung der Herrschaft.