Kirche und Missbrauch:Und führe uns nicht in Versuchung

Homosexuelle sind längst aus ihren Darkrooms ausgebrochen - und die Gesellschaft will die Dunkelräume der Kirche nicht mehr dulden.

Gustav Seibt

Warum kommen in jüngster Zeit überall auf der Welt, in Irland, in den Vereinigten Staaten, nun auch in den deutschsprachigen Ländern immer neue, dabei oft jahrelang zurückliegende Missbrauchshandlungen und Übergriffe katholischer Geistlicher an meist männlichen Schutzbefohlenen ans Tageslicht? Der Zölibat, die Verpflichtung zu Ehelosigkeit und sexueller Enthaltsamkeit, hat die katholischen Pfarrer, Mönche und Amtsträger in allen Jahrhunderten schweren Prüfungen ausgesetzt, denen viele nicht immer standzuhalten vermochten. Damit musste die Kirche in allen Jahrhunderten umgehen, und sie hat dies in immer neuen Formen getan.

Kirche und Missbrauch: In der kirchlichen Sündentaxonomie stehen Laster wie der "Hochmut" oder Verbrechen wie der Hostienraub an weit höherer Stelle als die "Wollust".

In der kirchlichen Sündentaxonomie stehen Laster wie der "Hochmut" oder Verbrechen wie der Hostienraub an weit höherer Stelle als die "Wollust".

(Foto: Foto: oH)

In sogenannten "Verfallszeiten" beispielsweise vor den monastischen Reformbewegungen des 10. und 11. Jahrhunderts waren Priester-Konkubinate auf dem flachen Lande allgegenwärtig, bis dann ein strengerer Geist dagegen einschritt. Homosexualität in den monastischen Männer-Orden war ein Dauerthema der Kirchenaufsicht, bis zu den gespenstischen Vorgängen beim Verbot der Templer zu Beginn des 14. Jahrhunderts, bei dem widernatürliche Unzucht neben anderen schweren Vorwürfen eine Begründung bot, um den mächtigen, schwerreichen Ritterorden aufzulösen und zu enteignen.

Die volkssprachige Literatur des Hochmittelalters kennt ein eigenes satirisches Genre, den dialogischen Wettstreit zwischen Rittern und Priestern über die Frage, wer besser beim Liebesakt sei. Noch Boccaccios Novellistik zehrt davon. Dass die Stadt Rom in der Hochrenaissance der Ort Europas war, in dem ein sonst nirgendwo gekanntes Ausmaß öffentlich sichtbarer Prostitution, weiblicher wie männlicher, herrschte, ist gut dokumentiert und wurde allgemein als Folge der Anwesenheit Tausender zölibatärer Männer im Zentrum der Kirche verstanden.

Als diese Kirche jüngst auf Geheiß von Kardinal Ratzinger die Archive ihrer inneren Gerichtsbarkeit, der Inquisition, zu öffnen begann, kam - für Kenner kaum überraschend - heraus, dass ein großer Teil der Akten nicht Prozesse zur Unterdrückung von Ketzereien, Aberglauben oder aufklärerischer Wissenschaft dokumentierte, sondern mit sexuellen Übergriffen und Verfehlungen von Geistlichen zu tun hatte; diese musste die durch den Protestantismus in eine scharfe Sittlichkeitskonkurrenz geratene Kirche in der Barockzeit schärfer ahnden als früher. War doch Luthers Ablehnung der priesterlichen Ehelosigkeit nicht nur biblisch-theologisch begründet - die heiligen Schriften zeigten ihm keine Grundlage dafür -, sondern aus der ganz aktuellen Wahrnehmung einer moralischen Verwilderung im Umgang mit dem nicht lebbaren Gebot zum Triebverzicht. Dann lieber eine ordentliche Ehe im Pfarrhaus mit Kindern und Hausmusik.

Rechtsgeschichtlich ist bei Betrachtung dieser im Alltag durchaus grauen und unprickelnden Sittengeschichte zu beachten, dass die katholische Kirche über Jahrhunderte in allen europäischen Ländern eine eigene Gerichtsbarkeit besaß, die über innerkirchliche, dogmatische oder disziplinarische Angelegenheiten hinausging und auch das Strafrecht betraf. So übte sich die Kirche darin, Verfehlungen aller Art in ihrem Inneren zu untersuchen, zu verfolgen und abzuurteilen. In Zeiten oft barbarischer Folterjustiz und öffentlicher Zurschaustellung von Delinquenten war diese innerkirchliche Justiz im Durchschnitt weit berechenbarer und humaner als die weltlicher Obrigkeiten.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die katholische Kirche nun ein doppeltes Problem hat.

Unsere Verfehlungen richten wir selber

Und diese in Jahrhunderten eingeübte Haltung - unsere Verfehlungen richten und reparieren wir selber - hat sich auf dem heiklen Gebiet der Sexualität bis in die jüngste Zeit erhalten. Schließlich gibt es hier eine rechtliche Grauzone von Tatbeständen, die vor Zivilgerichten schon längst nicht mehr strafbar sind, auf dem Forum Internum der Kirche aber sehr wohl zu ahndende Verfehlungen darstellen, beispielsweise homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen. Warum hätte die Kirche hier die Öffentlichkeit suchen sollen, zumal sie damit Delinquenten schützte, denen man wegen einzelner Ausrutscher nicht die ganze Existenz ruinieren wollte. Also griffen und greifen hier die geistlichen Strafmittel, einschließlich disziplinarischer Maßnahmen wie Versetzungen, Karrierestop und nur im schlimmsten Fall Ausschluss aus den kirchlichen Organisationen.

Dazu kommen besondere Verfolgungserfahrungen der katholischen Kirche in der modernen Welt. Wo immer es seit der Französischen Revolution darum ging, die Kirche auch moralisch anzugreifen, spielten der Zölibat und seine Folgen fürs Verhalten der Geistlichen eine zentrale Rolle. Der bürgerlichen, aber auch der totalitären oder massendemokratischen Sexualmoral war eine Organisation von überwiegend unverheirateten Männern tief verdächtig. So gehören ins Repertoire auch des aufgeklärten liberalen Antikatholizismus wilde Phantasien über sexuelle Verfehlungen, ganz ähnlich wie es bei heutigen Islamkritikern die Zwangsheiraten und Ehrenmorde sind. Die Nationalsozialisten setzten in den dreißiger Jahren eine Serie abstoßender Missbrauchsprozesse gegen Kleriker in Gang, die mit enormem Spektakel die katholische Kirche auf ihrem eigenen Gebiet, der Moral, diskreditieren sollten.

Ein doppeltes Problem

In den letzten Jahrzehnten hat sich nun die Umwelt für die Kirche in zwei Fragen entscheidend geändert: Homosexualität, vor allem die männliche, kam aus dem Untergrund heraus, sie wurde bürgerlich, auch rechtlich anerkannt; die Grenzen für den Missbrauch an Kindern dagegen wurden neu eingeschärft, ja verstärkt, teilweise mit lüsterner Skandalisierung in den Medien. Die zölibatäre, überwiegend männliche Organisation der katholischen Kirche, die in Seelsorge und Erziehung vielfach mit jugendlichen Schutzbefohlenen zu tun hat, bekam damit ein doppeltes Problem.

Ihre traditionelle theologische Ablehnung der Homosexualität - "objektiv ungeordnet" nannte sie Joseph Ratzinger als Kardinal, als "Defekt" versteht sie bis heute der Philosoph Robert Spaemann - verlor in einer liberalen Öffentlichkeit und Pädagogik an Zustimmung; gleichzeitig sind die Maßstäbe im Umgang mit Minderjährigen durch Erzieher eher verschärft worden, jedenfalls wird ihre Einhaltung argwöhnisch beobachtet - mit vollem Recht, wenn man die von einer modernen Psychiatrie gut dokumentierten verheerenden seelischen Folgen selbst "harmloser" Übergriffe auf Jugendliche bedenkt.

Beides führt dazu, dass der institutionelle, innere Dunkelraum, in dem die Kirche ihre sexualmoralischen Probleme ordnete, nicht mehr wie gewohnt funktionieren kann. Denn auch die bürgerliche "Diskretion" in Fragen der Homosexualität, also die traditionelle zivile Form des Grundsatzes "don't tell, don't ask", ist ja weitgehend verschwunden, ganz zu schweigen von strafrechtlichen Sanktionen. Also verliert auch der innerkatholische Mechanismus von Sünde, Beichte, Strafe und Vergebung auf diesem Feld an öffentlicher Legitimation.

Starke Anziehungskraft

Denn, das muss sich eine an solchen Fragen zuletzt wenig interessierte Öffentlichkeit vor Augen halten: Historisch gesehen, unter altständisch-patriarchalischen Verhältnissen, übte die zölibatäre Männerorganisation Kirche natürlich immer eine starke Anziehungskraft auf homosexuelle Männer aus, die den ihnen von der ganzen Gesellschaft abverlangten Triebverzicht hier zu sublimieren, ja zu heiligen vermochten. Die diesbezüglichen Sünden hat die Kirche ebenso wie heterosexuelle Fehltritte unter dem Rubrum der "Wollust" dann keineswegs überstreng sanktioniert. In ihrer Sündentaxonomie stehen Laster wie der "Hochmut" oder Verbrechen wie der Hostienraub an weit höherer Stelle.

Diese Struktur aus homophober Repression, Geheimniskrämerei und nicht selten Lässlichkeit bricht nun zusammen. Die Kirche kommt an in dem modernisierten System der Sexualmoral der liberalen Gesellschaft, ob sie will oder nicht. Dieses System ist einerseits weitherziger als früher, an anderen Stellen durch die Erkenntnisse von Psychologie und Pädagogik jedoch deutlich strenger geworden. Die Homosexuellen sind längst aus ihren Darkrooms herausgekommen; die Gesellschaft ist parallel dazu nicht mehr bereit, die Dunkelräume der Kirche zu dulden.

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