Kirche und Missbrauch:Riskantes Manöver

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Schon Paulus sagte über Pädophilie: "Führt keine Prozesse." Über den Missbrauch der Priester, die Autonomie der Kirche - und eine gravierende Machtverschiebung.

Klaus Berger

Als hätte der Apostel Paulus es geahnt. In der Gemeinde von Korinth gab es um 50 nach Christus Fälle von Homosexualität, Pädophilie und Inzest (1. Korintherbrief, 5-6). Im antiken Korinth wirklich kein Wunder. Und Paulus sagt der Gemeinde: Ihr, Opfer und Täter, geht nicht zu den weltlichen Richtern. Macht die Sache unter euch und mit seelsorgerlich erfahrenen Christen ab. Führt keine Prozesse. Sie zerren ans Licht der Öffentlichkeit, was dort nicht hingehört, und schaden der Gemeinde.

Sexskandal unter Christen - diese Worte stammen aus der Bibel. Die Kirche täte gut daran, sich dort Rat zu holen. (Foto: Foto: dpa)

Schon lange sagen die Exegeten dazu: Paulus wollte Opfer und Täter schützen, und einer missionarischen Gemeinde standen solche Gerüchte damals auch nicht an. Allerdings sind Sünder auch wirklich Sünder. Aber, so Paulus, wenn durch die angeblich neue Entdeckung, dass Christen Sünder sein können, das Evangelium verdunkelt wird, dann ist das Maß voll. Denn schon munkelt man in Korinth: "Sexskandal unter Christen!" (So wörtlich im 1. Korintherbrief, 5,1).

Übrigens sagt Paulus: Mit dem Täter diskutiert nicht, sondern werft ihn hinaus. Vielen Theologiestudenten kam das immer zu hart vor. Aber seit wann darf man die eigene Institution nicht schützen? Denn vom Neuen Testament her bringt die Kirche die Erfahrung mit auf den Weg, wie leicht Gemeinden zerstörbar sind, von außen durch Gerüchte und von innen durch Verbrechen. Und was sagt Paulus von den Opfern? Er nennt sie nicht so, aber in den unmittelbar anschließenden Versen sagt er dazu etwas: Die üblichen Opfer sexueller Gewalt sind Frauen (1 Kor 6,12 - 7,8). Das Gegenprogramm zugunsten aller Opfer ist strikteste, peinlich gerechte Gleichbehandlung mit gleichen Rechten und Pflichten allzeit und für jeden.

Paulus redet im siebten Kapitel des 1. Korintherbriefs inklusiv und spricht in einer Weise über die sexuelle Gleichstellung von Mann und Frau, die einzig ist in der alten Welt. Es hat ziemlich genau 2000 Jahre gebraucht, bis man die Brisanz dieses Ansatzes entdeckte.

Paulus hatte den Rat, nicht zu den öffentlichen staatlichen Richtern zu gehen, von den jüdischen Gemeinden im Bereich des Hellenismus übernommen. Abgesehen von der Kapitalgerichtsbarkeit (Todesstrafe) hatte man den Juden ihre eigene Rechtspraxis belassen. Die Juden honorierten dieses Privileg, indem sie für den Kaiser beteten. Die frühen Christengemeinden lebten im Schatten dieses den Juden zugestandenen synagogalen Vereinsrechts. Es war eine Art von Religionsfreiheit, die aber freilich nicht nur den Kult, sondern auch das nach biblischer Religion damit eng verzahnte Verhältnis unter den Mitgliedern dieses "Vereins" betraf. Denn das jüdische Gesetz betraf stets Kult und "Gerechtigkeit".

Paulus und die katholische Kirche haben dieses Prinzip der Autonomie übernommen. Es wurde als eine Form von Religionsfreiheit verstanden. Damit man diese nicht als Libertinage missdeutete, fügt Paulus schon in 1 Kor 6,11 hinzu: "Kein Lüstling, kein Ehebrecher (...), kein Strichjunge und kein Knabenschänder, kein Lästermaul und kein Wegelagerer wird das Reich Gottes erben." Denn Zügellosigkeit fördern und Autonomie gestatten sind zwei verschiedene Dinge. Auch der alte Codex Iuris Canonici (CIC) las sich noch streckenweise wie eine Parallele zum Bürgerlichen Gesetzbuch oder Strafgesetzbuch.

Wie die Menschen dieses wahrnahmen? Sie kamen zu dem Ergebnis: "Unterm Krummstab ist gut wohnen." "Krummstab" oder Hirtenstab ist dabei das Zeichen der Amtsgewalt für Bischof oder Abt.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Kirche keine Außenstelle der Strafverfolgung ist.

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Vor allem haben die Bischöfe durch dieses von ihnen praktizierte Recht in unruhigen Zeiten (wie zur Zeit der Völkerwanderung oder in Kriegen) Europa Stabilität gegeben. Bis heute hat die katholische Kirche diese Teilautonomie bewahrt. Dieses jüdisch-hellenistische Prinzip wird dabei durch Paulus im sechsten Kapitel des 1. Korintherbriefs modifiziert. Denn für ihn lebt die Gemeinde nach Gottes Recht, weil sie Gottes eigenes Volk in Gottunmittelbarkeit ist; gilt doch das in ihr geltende Gottesrecht im Weltgericht. Waren antike Juden durch verständnislose heidnische Richter bedroht - so konnte man damals den Schaden durch die jüdische Rechtsautonomie gering halten.

Heute ist die Kirche weniger durch staatliche Richter ohne Verständnis bedroht, vielmehr erhält sie jetzt ihr Urteil durch allmächtige Medien und Politiker. Angesichts dieser gravierenden Machtverschiebung täte es fast gut, sich ein wenig an vorneuzeitlichen Konstellationen zu orientieren, wie der 1. Korintherbrief sie darstellt.

Nach katholischer Auffassung ist daher das eigene Recht der Kirche unabhängig vom staatlichen Recht, und es hat eine eigene Würde. Daraus ergibt sich nach katholischem Verständnis: Kirche und Staat sind zwei unterschiedliche Rechtskreise, zwei Arten von Beurteilung und zwei Arten von Sanktionen. Die kirchlichen Sanktionen und Disziplinarmaßnahmen gehen den Staat nichts an. Die Kirche hat ein historisches Verständnis: Alles in ihrem Bereich geht den Staat nichts an und ist auch nie staatliches Recht gewesen.

Dagegen besitzt die evangelische Kirche ein gebrochenes Verhältnis zum Kirchenrecht, ihre Rechtsordnung steht nach eigener Überzeugung grundsätzlich im staatlichen Rechtskreis. Ihre Rechtsordnung übt sie nur insofern aus, als der Staat sie ihr zugesteht und auch gewährleistet. Für die katholische Auffassung war neu, dass seit dem 19. Jahrhundert der Staat sich die Hoheit in ehelichen Dingen zugeschrieben hat. Die Kirche hat das nach starken Bedenken akzeptiert.

Nun haben aber jetzt - unter dem Druck der öffentlichen Meinung - zum Beispiel die bayerischen katholischen Bischöfe erklärt, selbst jeden Verdachtsfall von Missbrauch dem Staatsanwalt zu melden. Im Rahmen von Geschichte und Selbstverständnis der Kirche seit Paulus ist das ein riskantes Manöver. Ihren Beschluss nach engerer Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden werden die Bischöfe gewiss nicht sofort in Strafanzeigen umsetzen. Die Kirche ist keine Außenstelle der Strafverfolgung.

Denn in einer systematisch hysterisierten Öffentlichkeit werden Trittbrettfahrer nicht gerade selten sein. Die bayerischen Bischöfe werden angesichts ihres Beschlusses sicher auch beachten: Es darf ein Zwang zur Denunziation nicht bestehen. Und in jedem Falle bedarf es eines einigermaßen fundierten Verdachts. Der gegenwärtige Zustand dagegen entspricht dem nicht: Jeder kann jeden denunzieren. Es genügt der Verdacht, um jemanden abzuräumen. Das kann sich die Kirche nicht gefallen lassen. Es besteht eine Fürsorgepflicht der Amtsträger und überdies eine Unschuldsvermutung. Im Rahmen ihrer eigenen Rechtsmöglichkeiten gilt: Die Kirche hat dem Gefährdeten Schutz, dem Beschuldigten Fürsorge angedeihen zu lassen - bis zum Erweis des Vergehens.

Das, was dem Außenstehenden als Vertuschung erscheint, war eine solche keineswegs generell. Es gab mindestens einen Beauftragten der deutschen Bischöfe, der jeden Tag bis in die Nacht hinein mit der Sorge um die "Täter" befasst war und gegen die Wiederholungsgefahr kämpfte. Die Irritation, die freilich keinem Außenstehenden erklärt wurde und die nun die Menschen hysterisch macht, besteht darin, dass man bis vor kurzem Pädophilie für heilbar hielt. Daher hat die Kirche (namentlich: P. Dr. Ulrich Niemann SJ) die Täter behandelt, hat Neuanfänge versucht und sie doch, wenn das nicht klappte, in den Laienstand zurückversetzt. Das heißt: Bis vor kurzem hielt die Kirche, in Übereinstimmung mit vielen Richtungen der Psychiatrie, die Pädophilie für therapierbar. Erst neuerdings - bei der Abkehr von der Schule Sigmund Freuds - ist man dazu übergegangen, dieses nicht mehr zu glauben. Das ist immerhin ein Schwenk der Forschung um 90 Prozent. Dass sich die Kirche so verhalten hat, wie geschehen, lag daher im Rahmen des damaligen Kenntnisstandes und ist der Kirche heute nicht vorzuhalten.

Ebenso ist allerneuesten Ursprungs - und gewiss zu begrüßen -, dass die öffentliche Moral sich stärker als früher den Opfern zuwendet. Das gilt ganz generell, und zwar für staatliches wie für kirchliches Recht. Wie sehr klagt man bis heute, dass man sich offiziell fast ausschließlich um die Täter und zu wenig um die Opfer kümmert. Wie Paulus da denkt, wurde oben gezeigt. Das Sich-Kümmern um die Opfer ist ein Zugewinn für beide Seiten.

Und ich kann es nur als eine Äußerung in Richtung der Verhöhnung von Christentum und Opfern deuten, wenn Gustav Seibt der Bibel Zynismus unterstellt: Gott habe ja sowieso das unschuldige Opfer lieb.

Was die Therapie angeht: Die Kirche hat höchst clevere Erfahrungen in Langzeittherapien, die viel zu tun haben mit der gesamten überreichen Tradition ihrer Erfahrungen von Heilung. Ich persönlich würde mich tausendmal lieber einer weisen alten Nonne anvertrauen als einem allwissenden Psychiater.

Grundlegend für das Verständnis der Lage ist daher der autonome Ursprung des katholischen Kirchenrechts - ein Erbe und Geschenk des Judentums. Die Folge: Es gibt gewisse Überschneidungen beider Rechtskreise, des staatlichen und des kirchlichen. Dabei braucht die Kirche aber jetzt nicht auf Autonomie zu verzichten, weil der Staat sie ohnehin nicht von seinen Normen freistellt. Fazit: In gewissem Umfang kollidiert die Kirche mit dem System des modernen Staates. Dabei verbindet die Kirche Recht mit moralischen Geboten (und hat daher bisweilen strengeres Recht), der Staat setzt dagegen auf ein Minimum an zusätzlicher Moral. Und im Übrigen hat schon Dante das Inferno mit Klerikern gefüllt. Das war kein Witz, aber auch kein Blankoscheck für Laien.

Der Autor lehrte von 1974 bis 2006 als Kryptokatholik evangelische Theologie an der Universität Heidelberg. Er wirkt heute an der Priesterausbildung an der Abtei Marienwald mit. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch "Zölibat: Eine theologische Begründung".

© SZ vom 04.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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