Kirche und Missbrauch:Alles im Griff

Frankreich scheint von einem Beben, wie es die deutsche und irische Kirche momentan erleben, verschont zu werden. Hat die französische Kirche das Problem der Pädophilie einfach offensiver angegangen?

Alex Rühle

Ende März veröffentlichte die französische Bischofskonferenz ein Schreiben, in der sie abgrenzend Stellung bezieht zu den Missbrauchs-Skandalen in anderen europäischen Ländern: "Die Situation ist von Land zu Land verschieden. In Deutschland und Irland sind ganze Institutionen von den Vorwürfen betroffen, in Frankreich aber hatten wir es bisher nur mit Einzelfällen zu tun." Das einschränkende Wörtchen "bisher" könnte man so interpretieren, dass das dicke Ende noch kommt. Man könnte es aber auch so interpretieren, dass die katholische Kirche in Frankreich prinzipiell vorsichtiger geworden ist in der Wortwahl.

Staat und Kirche sind streng getrennt

Rund 30 Klerikale sitzen in Frankreich zur Zeit wegen Missbrauchs hinter Gittern, in einem Dutzend weiterer Fälle wird laut Auskunft der französischen Bischofskonferenz ermittelt. So wurde Anfang März ein Priester im Erzbistum Rouen vorübergehend von seinen Ämtern freigestellt, nachdem er von der Polizei wegen angeblich auf seinem Rechner gefundener pädophiler Bilder verhört worden war. Außerdem ermittelt die Justiz gegen einen Priester, der - ebenfalls in Rouen - Anfang der neunziger Jahre einen Minderjährigen missbraucht haben soll. Dennoch: Frankreich scheint von einem Beben, wie es die deutsche und irische Kirche momentan erleben, verschont zu werden. Woran liegt das?

Zum einen gibt es in Frankreich seit 1905 die strenge Trennung zwischen Kirche und Staat, weshalb es weit weniger katholische Erziehungseinrichtungen gibt als in anderen Ländern. Geschlossene Anstalten wie in Irland, wo die Kirche schalten und walten konnte, wie es ihr gefiel, gibt es nicht mehr. Antoine Hérouard, Generalsekretär der französischen Bischofskongregation, lobt denn auch in einem Interview mit der katholischen Zeitschrift La Croix, die laizistischen Strukturen des Landes, die in seinen Augen garantieren, dass es in Frankreich "höchstens individuelle Missbrauchsfälle gegeben habe". Hérouard betont ferner, die französische Kirche habe früher als andere Länder das Problem der Pädophilie offensiv angegangen.

Zum Wohl und Schutz der Kinder

Das stimmt. Im Jahr 2000 war ein Priester in der Diözese von Bayeux wegen schwerer sexueller Übergriffe auf Minderjährige von einem Schwurgericht zu 18 Jahren Haft verurteilt worden; elf Familien hatten gegen ihn Anzeige erstattet. Zum Skandal geriet die Geschichte, weil der Bischof der Diözese um die Taten gewusst, aber der Justiz gegenüber geschwiegen hatte. Der Bischof wurde wegen "unterlassener Erstattung der Anzeige von Sexualstraftaten an Minderjährigen" zu einer mehrmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt.

Die französischen Bischöfe beschlossen auf ihrer anschließenden Konferenz in Lourdes, in Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in Zukunft ohne jede Einschränkung mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie entschieden, das Wohl und der Schutz der Kinder seien in jedem Falle "über ein eventuelles Beichtgeheimnis" zu stellen. Der Bischof hatte in seiner Verteidigung auf das Beichtgeheimnis verwiesen, das ihm die Hände gebunden habe. Seit dieser Konferenz, so der Religionssoziologe Jean-Louis Schlegel, landeten Missbrauchsanzeigen "garantiert nicht mehr im Abfalleimer der Bischöfe".

Außerdem ließen die Bischöfe damals katholische Theologen gemeinsam mit Psychologen und Juristen ein Regelwerk für den "Kampf gegen die Pädophilie" erarbeiten, das für alle angehenden Priester und Erzieher in katholischen Einrichtungen seither Pflichtlektüre ist. Darin heißt es, pädophile Akte von Priestern seien "absolut zu verurteilen"; Bischöfe hätten die Pflicht, Vorwürfe aufzuklären, sie dürften "weder passiv sein noch gar strafwürdiges Verhalten decken".

Das Einzige, was einen stören könnte an alledem, ist der etwas selbstgewisse Ton, den die französische Kirche momentan anschlägt: Einzelfälle; wir sind ganz anders; alles im Griff. Die Geschichten, die gerade in Deutschland hochkochen, liegen zu großen Teilen länger als zehn Jahre zurück. Es dauert meist sehr lange, bis Missbrauchsopfer sich offenbaren.

Das macht auch die Geschichte des französischen Schauspielers und Autors Olivier Ka deutlich: Ka, aufgewachsen bei areligiösen Eltern, war in den achtziger Jahren mit einem Priester auf Ferienfreizeiten, der so "ganz anders war, ein linker Priester, cool, witzig, ein Kumpel". Ka hat die Geschichte dieses Sommerlagers zusammen mit dem Zeichner Alfred zu einer beklemmend großartigen Graphic Novel verarbeitet, die hierzulande im Carlsen-Verlag erschienen ist: "Warum ich Pater Pierre getötet habe" erzählt in immer neuen Anläufen von dem freundlichen, bärtigen, Gitarre spielenden Priester, der sich eines Nachts an dem Jungen verging.

Wer etwas von der zerstörerischen Strahlkraft eines einzigen solchen Übergriffs erfahren will, der lese dieses Buch, das einer Art Privatexorzismus gleicht, der Priester, übermenschlich groß, wird Dämon, Teufel, rotes Raubtier und sucht Olivier 20 Jahre lang heim. Der kann ihn erst töten, indem er die Geschichte zur Sprache bringt, in Buchform: Am Ende fährt Olivier zu seinem Peiniger und überreicht ihm die Seiten, einem alten, grauen kleinen Mann. Es wird interessant sein, zu sehen, welche ähnlichen Befreiungsgeschichten auch in Frankreich noch ans Licht kommen werden.

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