Kinofilm "Son of Saul":Pornografie des Schmerzes

Kann es einen authentischen Spielfilm über Auschwitz geben? Der ungarische Oscar-Gewinner "Son of Saul" versucht es - und scheitert.

Filmkritik von Susan Vahabzadeh

Als es schon Abend geworden ist, sucht Saul immer noch einen Rabbi. Er gehört einem Sonderkommando in Auschwitz an, und dann gerät er in einen Menschenstrom, der unterwegs ist, um erschossen zu werden - und Saul riskiert, dazu zu gehören. Es ist ihm vielleicht tatsächlich fast egal. Er weiß, dass die Arbeit im Sonderkommando seine eigene Ermordung nur aufschiebt; und bis dahin schafft er Leichen zu Verbrennungsöfen.

Saul, gespielt von Geza Röhrig, hat am Morgen unter den Leichen einen Jungen gefunden, der noch lebt und nachträglich umgebracht wird. Er hat sich nun in den Kopf gesetzt, einen Rabbi zu finden. Der Junge, sagt er, sei sein Sohn und müsse ordentlich begraben werden.

Wir folgen ihm, wie er die Leiche beiseiteschafft, sie versteckt, Hilfe sucht, gegen die Zeit anläuft. Der ungarische Regisseur Laszlo Nemes ist für das angeblich Authentische an "Son of Saul" mit Lob überschüttet worden, seit der Film in Cannes Premiere hatte - niemand habe es gewagt, hieß es immer wieder, so weit vorzudringen ins Lager von Auschwitz. In der vergangenen Woche hat "Son of Saul" den Oscar gewonnen für den besten fremdsprachigen Film.

Wie eine Fotosafari

Nemes erzählt in "Son of Saul" eine richtig gute Geschichte, die hinter der Art, wie der Film gedreht ist, fast in den Hintergrund tritt. Saul hatte vielleicht nie einen Sohn; er braucht irgendetwas, um seinen eigenen Überlebenswillen zu retten.

Film

Ein Tag in Auschwitz, auf der Suche nach einem Rabbi unter den Todgeweihten - "Son of Saul" von Laszlo Nemes.

(Foto: Sony)

Darüber, diese Geschichte zu filmen wie einen Trip durchs Lager, kann man dann mindestens streiten - über die Handkamera, die Unschärfen am Bildrand. Es gibt womöglich Zuschauer, die nicht möchten, dass jemand sie mitnimmt nach Auschwitz bei vollem Betrieb - weil sie das vielleicht als das filmische Äquivalent zu einer Afrikareise empfinden, bei der man Selfies mit hungernden Kindern macht.

Authentizität statt bombatischer 3-D-Effekte

Was Filme über den Holocaust betrifft, hat Nemes eine Grenze überschritten. Bei anderen Sujets ist so viel Wirklichkeitsstreben längst normal. Das Kino wehrt sich gegen die Konkurrenz von Internetspielen, sozialen Foren und Streaming-Plattformen, in dem es auf eine Fähigkeit setzt, die sich einstweilen zu Hause vor dem Notebook nicht herstellen lässt - das Kino kann auf riesigen Leinwänden Realität vorgaukeln, und es wird darin, auch jenseits von Imax-Kinos und Experimenten mit Virtual Reality, immer besser.

Die eine Art Kino imitiert in computergenerierten Bildern die Welt, lässt versunkene Städte in 3-D wiederauferstehen. Das ist teuer. Der nicht so kostspielige Teil des Kinos ahmt dagegen Wahrnehmung radikal nach. Diese Filme verzichten auf Künstlichkeit, wie sie ansonsten erzeugt wird durch perfekte Ausleuchtung und eine eher statische Kamera.

"Son of Saul" gehört zur zweiten Kategorie. Gedreht mit der Handkamera in wackeligen Bildern, nimmt man die Leichen in den Unschärfen am Bildrand kaum wahr - eben so, als liefe man selbst hinter Saul her. So sind in den letzten Jahren viele Filme gedreht worden, Sebastian Schippers "Victoria" beispielsweise. Man fühlt sich da, als hätte einen der Filmemacher mitgenommen auf eine Reise in ein anderes Leben. Es gibt fürs Kino derzeit kein wertvolleres Gütesiegel als so viel "Authentizität".

Filme heute müssen echter wirken als noch vor ein paar Jahren

Ist das aber richtig so? "Authentisch" gilt inzwischen als so großartig, dass niemand mehr fragt, was da eigentlich so real wirkt, als sei man dabei gewesen. Es ist ein Unterschied, ob einer einen Film macht, der den Eindruck vermittelt, man sei auf einer Stadtbesichtigungstour im Manhattan von 1900 gewesen - oder ob es um Mord und Gewalt geht. Kino tut ja immer nur so, als würde es eine Erfahrung ersetzen; letztlich ist der Zuschauer nie mehr als ein passiver Beobachter. Mehr ist ein Tourist auf Städtereise manchmal auch nicht.

Dem Postulat, alles müsse irgendwie echt wirken, können Filme sich nicht mehr widersetzen. Abstraktion ist schon in den Geschichten, die das Kino erzählt, nicht mehr in Mode; seinen Bildern wird sie fast gänzlich ausgetrieben. Unsere Sehgewohnheiten ändern sich; und so empfinden heute weite Teile des Publikums schon frühe Computertricks oder gar einen SchwarzWeiß-Film als surreal - obwohl diese Aufnahmen noch vor wenigen Jahrzehnten als ganz nah dran an der Wirklichkeit durchgingen.

Kann die Kamera deutlich machen, wie es ist, Leichen zu verbrennen?

Was Nemes in seinem Film zeigt, ist ohnehin das Abbild von etwas, das man nicht nachstellen kann - "Son of Saul" ist ein Spielfilm, kein Dokument, und der Schrecken, der echten Bildern aus Vernichtungslagern innewohnt, geht weit über das Sichtbare hinaus.

Die Frage ist, was diese notdürftig nachgestellte Realität in "Son of Saul" dann überhaupt bezwecken soll. Wenn ein Filmemacher ernstlich glaubt, eine solche Tour de Force mit der Wackelkamera könne wirklich nachvollziehbar machen, wie es ist, Leichen zu verbrennen und auf die eigene Ermordung zu warten, alles bequem vom kuscheligen Kinosessel aus - das wäre nun wirklich Hybris. Den Tod macht nur der Tod selbst erfahrbar; ein Spielfilm ist, selbst wenn er ein großes Kunststück ist, am Ende immer nur - ein Kunststück.

Der französische Filmemacher Claude Lanzmann ("Shoah"), der sonst immer sehr klare Vorstellungen von den Grenzen der Bebilderung des Holocaust benannte, hat "Son of Saul" für gut befunden. Dem muss man dennoch nicht folgen.

Wer von dieser Geschichte nicht bewegt wäre, würde sie sich der üblichen Beobachter-Perspektive bedienen, der wird durch diese Achterbahnfahrt durchs Lager auch nicht einfühlsamer werden. Es ist nicht für jede Geschichte jede Bebilderung die passende - und manchmal ist die distanzierte Beobachtung, das Licht, das die Künstlichkeit verrät, durchaus angemessen.

Sind diese Bilder mehr als der Kontrast zu unserem guten Leben?

Was empfinden wir überhaupt noch als unerträgliches Bild? Dass man mit schockierenden Bildern schockierende Wirklichkeit verhindern könne, der Glaube zog sich weit durchs letzte Jahrhundert, das an Gräueltaten nicht ärmer wurde, als man begann, seine Kriege mit Fotografie und Filmaufnahmen zu begleiten.

Was genau sollen diese Bilder also bewirken - und ist es nicht ganz oft so, dass sie einfach nur der Kontrast sind zu unserem relativ bequemen Leben im wohlhabendsten, sichersten Teil der Welt? Das unterstellte Susan Sontag in "Das Leiden anderer betrachten" (2003) - da ging es vorwiegend um Fotografien, um die Abbildung von realer Gewalt; die im Kino ist ja nur gespielt.

Was Sontag schrieb, trifft trotzdem auf ein Kino zu, das sich zunehmend nach wahren Geschichten und authentischen Bildern sehnt, das eine Erfahrung sein will: In einer Flut von Bildern, von denen so viele gezielt zur Manipulation eingesetzt werden, ist kein Verlass mehr auf einen bestimmten Effekt, den die Abbildung von Leid erzielen soll. Manchmal kommt nur die Ausbeutung von Emotionen dabei heraus.

"Bilder des Schreckens befriedigen auch eine Wonne, anderen beim Leiden zuzusehen"

"The Revenant", in der vergangenen Woche mit drei Oscars ausgezeichnet, ist auch so ein Film, der als ungeheuer authentisch galt, und dem der Ruf vorauseilte, man sähe dort Dinge, die vorher noch nie gezeigt wurden. Was vielleicht stimmt.

Leonardo DiCaprio spielt den "Revenant", der sich schwer verletzt durch einen Rachefeldzug schleppt gegen den Mann, der seinen Sohn umgebracht hat. Einmal verkriecht er sich, es ist bitterkalt und er ist mitten in der Wildnis, im noch warmen Kadaver seines zuvor abgestürzten Pferdes für die Nacht, da muss er erst einmal Platz machen und das Gedärm herausreißen - das wurde so vielleicht wirklich noch nie gezeigt, zumindest nicht im Mainstream-Kino.

Eigentlich erzählt einem dieses Bild zu diesem Zeitpunkt im Film schon lange nichts Neues mehr, hier folgt Gräueltat auf Gräueltat, und der "Revenant" geht durch Eis, Feuer und Höllenqualen. Eigentlich ist das Pain Porn - die weitgehend sinnfreie Abbildung von Schmerz. Bilder des Schreckens, schrieb Sontag, befriedigen auch eine Wonne, anderen beim Leiden zuzusehen. In einem Spielfilm ist dann am Ende wenigstens keinem irgendwas geschehen: No animals were harmed during the making of this movie, es wurden keine Tiere verletzt. Höchstens Gefühle.

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