"Zombi Child" im Kino:"Hört, ihr Weißen"

Zombi Child Bertrand Bonello Film Kino

Mélissa (Wislanda Louimat, r.) ist die Tochter einer haitianischen Widerstandskämpferin - und die Enkelin eines Zombies.

(Foto: Grandfilm)

Der Film "Zombi Child" von Bertrand Bonello geht zurück zu den Wurzeln des Voodoo-Zaubers und verknüpft ihn mit französischer Kolonialgeschichte.

Von Philipp Stadelmaier

Es beginnt in einer kerzenbeschienenen Kammer auf Haiti, im Jahr 1962. Eine Hand schneidet einen kugeligen Fisch auf, entnimmt die wabbeligen Gedärme und legt sie in eine Schüssel. Ein Feuer wird angezündet und ein Pulver hergestellt, aus den Fischorganen und anderen Ingredienzen. Dann wird die schwarze Substanz in ein Paar Schuhe geträufelt.

Ein Mann, sein Name ist Clairvius Narcisse, läuft eine Straße entlang, vorbei an bunten Hausfassaden, die Kamera folgt ihm. Er trägt die Schuhe aus der ersten Szene - zu seinem Pech. Sein Gang wird unsicherer, er beginnt zu schlingern, dann fällt er und bleibt tot auf der Straße liegen.

So schnell kann es gehen, wenn ein Voodoo-Priester sein Handwerk versteht. Das Fiese daran: Der Mann ist nicht richtig tot. Während seiner Beerdigung hört er im Sarg, wie die Erde auf das Holz prasselt. Dann wird er von einigen Männern durch die Nacht zu einer Zuckerrohrplantage geführt. Aus dem Scheintoten ist ein willenloses Wesen in Dauertrance geworden, ein Sklave, verdammt zu ewiger Zwangsarbeit auf der Plantage.

In "Zombi Child", der letztes Jahr auf den Filmfestspielen in Cannes lief, erzählt der französische Filmemacher Bertrand Bonello die Geschichte dieses Mannes. Wie Maya Deren in "Divine Horsemen", ihrem wunderbaren Filmessay von 1954, führt Bonello die Figur des Zombies weg von seinem Horrorfilm-Image und zurück zu seinen kulturellen und historischen Wurzeln, zur Voodoo-Religion und dem Zombie-Kult auf Haiti.

Doch dabei handelt es sich nur um einen Teil des Films. Der andere spielt im Paris der Gegenwart. Hier besucht die Enkelin des Zombiemanns, Mélissa (Wislanda Louimat), ein Mädcheninternat, reserviert ausschließlich für junge Frauen, deren Eltern oder Großeltern Orden der Ehrenlegion verliehen wurden. Der Unterricht ist exzellent, die Mädchen tragen Schuluniform mit Schärpe.

Das Internat ist, wie so oft bei Bonello, eine Parallelwelt - romantisch, aus der Zeit gefallen und dennoch von der Gegenwart durchdrungen. Mélissa, die Außenseiterin, findet in Fanny (Louise Labeque) eine weiße Freundin und wird von ihr in ihre weiße Clique aufgenommen. Tagsüber liegen sie mit ihren Handys im Herbstlaub, nachts schleichen sie sich aus dem Schlafsaal in eine Gruft, zünden Kerzen an, trinken Gin und singen Lieder des belgisch-kongolesischen Rappers Damso. Sehr viel konservativer könnte es am Internat ansonsten kaum zugehen, sehr viel weißer auch nicht: Mélissa, deren Mutter einst gegen den haitianischen Diktator Duvalier agitiert hat, ist die einzige Schwarze in dieser Elitenbrutstätte.

Ist der Liebeskummer einer Weißen vergleichbar mit dem Leid der Haitianer?

Bonello stellt seinem Film die Worte des haitianischen Dichters und Aktivisten René Depestre voran: "Hört, ihr Weißen, die Stimme unserer Toten; hört meine Zombie-Stimme zu Ehren unserer Toten." Als Wiedergänger sind die Zombies und ihre Nachfahren selbst Aktivisten gegen die Tradition des westlichen Kolonialismus, deren Tradition von den weißen Ehrenlegion-Töchtern verkörpert wird. Parallel zur französischen Revolution erhoben sich einst die Sklaven in der französischen Kolonie in der Karibik, bevor sie von Napoleon Bonaparte niedergeschlagen wurden. Die Worte Depestres scheinen direkt an einen Geschichtslehrer adressiert, der den Schülerinnen die "universellen" Ideale der französischen Revolution predigt. Dass diese zuvorderst für weiße, europäische Menschen gelten - wie man noch an der heutigen europäischen Migrationspolitik sieht -, erwähnt der Mann nicht.

So hat der Film mit Bezug auf Sklaverei und französische Kolonialgeschichte einen reichen Subtext. Doch Bonello geht es nicht um Pädagogik, um eine reine historische Lektion. Wenn der Geschichtslehrer in seinem Film möchte, dass seine Schülerinnen eine "Erfahrung" von Geschichte machen, meint er damit ein intellektuelles Abenteuer. Den Filmemacher Bonello interessiert, wie Geschichte körperlich erfahren und erinnert wird.

Der Film ist zerbrochen, die Zombie-Geschichte und die Geschichte im Internat laufen getrennt nebeneinander her. Denn die Geschichte von Mélissa, ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft ist eine Geschichte des Todes, die über Abbrüche hinweg bewahrt werden muss und nur durch Voodoo aktualisiert werden kann. So "erlebt" der Zombie, Clairvius Narcisse, ganz physisch seinen eigenen Tod. Mélissa macht ein Ritual zu seinen Ehren. Auch ihre Tante, eine Voodoo-Priesterin, steht mit den Toten in Kontakt, vor allem mit Mélissas Eltern, die bei dem schweren Erdbeben auf Haiti von 2010 ums Leben kamen.

Die Dinge werden komplizierter, als Fanny von ihrem Freund verlassen wird und Mélissas Tante bittet, sie in einem Ritual mit seinem Geist zu vereinen. Ist der Liebeskummer der Weißen vergleichbar mit dem Leid der Haitianer? Vermutlich nicht. Vielleicht doch. Bonello entscheidet nicht, er stellt die Frage in den Raum. Aber er zeigt die Konsequenzen, die das für Fanny haben wird. Wofür er sich den Voodoo-Priester zum Vorbild nimmt und ihr Dinge in die Schuhe träufelt, die sie aus dem Tritt bringen werden.

Zombi Child, F 2019 - Regie, Buch: Bertrand Bonello. Kamera: Yves Cape. Mit Louise Labeque, Wislanda Louimat, Mackenson Bijou. Grandfilm, 103 Min.

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