Kino:Ungeschliffene Kostbarkeiten

"Rohdiamanten" von Jakob Defant und Felix Herrmann ist ein experimenteller Dokumentarfilm über Lyrik und die Twitter-Künstlerin Annemarie Kuckuck

Von Anna Steinbauer

Es begann mit Blumensträußen und wurde eine Freundschaft. Heraus kam ein Film. Jedes Mal, wenn die beiden Filmemacher Annemarie Kuckuck in Wien besuchten, brachten sie ihr zwei Blumensträuße mit. Einen von Jakob Defant und einen von Felix Herrmann. Sie waren Zeichen dafür, dass sie beide ihren eigenen Kopf haben. Und es ihnen gleichermaßen daran gelegen war, ihrer Idee eine Form zu geben, ein Porträt über die junge österreichische Lyrikerin und Twitter-Künstlerin zu machen. "Rohdiamanten" haben sie ihren experimentellen Dokumentarfilm genannt, der an diesem Samstag im Maxim-Kino gezeigt wird. Aber wie verfilmt man Lyrik? Welches sind die passenden Bilder zu Versen, die allein durch ihre bloße Existenz als phonetisches Material schon Eigenständigkeit behaupten?

Sie wollten einen Textfilm machen, Gedichte mit experimentellen Bildern hinterlegen, das stand fest. Ursprünglich hatten sie den Plan, eine Art lyrischen Roadtrip nach Iran, der Heimat der Dichtung, zu machen. Doch dann wurden die Filmemacher auf den Twitteraccount von Annemarie Kuckuck aufmerksam. Die bildhafte Sprache und schmerzhafte Klarheit ihrer Tweets beeindruckte die beiden, so dass sie per Twitter Kontakt mit der Wienerin aufnahmen. Dass hinter dem Pseudonym nicht nur kluge, lustige und nachdenkliche Aphorismen, sondern eine ganze Fülle weiterer Geschichten und Erlebnisse verborgen wären, konnten die Regisseure zu diesem Zeitpunkt nur hoffen.

Annemarie Kuckuck heißt eigentlich Ianina Ilitcheva. Die 1983 in Usbekistan geborene und von einer nordkoreanischen Minderheit abstammende Künstlerin ist eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Seit 1991 lebt Ilitcheva in Wien, studierte zunächst Malerei an der Wiener Kunstakademie und besucht derzeit den Studiengang Sprachkunst an der "Angewandten". Letztes Jahr veröffentlichte sie ihr Buch "183 Tage", das Produkt eines Selbstversuchs, bei dem sich die Künstlerin ein halbes Jahr lang in soziale Isolation begeben hat, um die Quellen ihrer schöpferischen Inspiration zu erforschen. "Seit ich twittere, schreibe ich kein Tagebuch mehr", sagt Ilitcheva, deren Account mittlerweile aus mehr als 32 000 Tweets besteht. "Wenn man das zum ersten Mal liest, ist das ganz schön böse. Ihre Verse sind romantisch, aber mit Ironie und nicht kryptisch, sondern direkt.", sagt Herrmann. Wie auch die Künstlerin: Wenn Ilitcheva beispielsweise bei ihrer eigenen Lesung davon gelangweilt ist, dass ihr Kollege so langsam liest, kann es schon mal passieren, dass sie einen Rettich rausholt und auf den Tisch legt. Den hat sie zuvor ausgehöhlt und einen Vibrator hineingesteckt, der dann ganz leise zu vibrieren anfängt. Mit einem unaufdringlichen lyrischen Summen.

Als Jakob Defant und Felix Herrmann Ilitcheva schrieben, einen Twitterfilm mit ihr machen zu wollen, war ihre erste Antwort "lol". Die beiden hätten wohl ein falsches Bild von ihr, sie sei nicht geeignet für einen Film, schrieb sie. Die Künstlerin hat einen Gendefekt, der ihre Haut fragil und brüchig macht. Ein paar Blumensträuße später stellte sie fest, dass die Wellenlänge doch dieselbe ist. "Rohdiamanten" ist eine Kostbarkeit, die in ihrem Rohmaterial aus einer gemeinsamen Marokko-Reise, aus Sprachspielen und experimentellen Bildaufnahmen besteht. Versehrtheit und Krankheit spielen eine Rolle wie auch ein paar argentinische Käfer, die man lebend schlucken muss, damit sich ihre Heilkraft entfalten: "Baby, ich bin all das, was der Arzt dir verboten hat!", heißt es in einem eingeblendeten Tweet der Künstlerin. Und: "Ich bin doch nur ein schüchterner Freak". Von wegen.

Premiere "Rohdiamanten", Regie, Kamera, Buch: Felix Herrmann & Jakob Defant , 21 Uhr, Maxim-Kino, Landshuter Allee 33, 168721. Die Regisseure und die Lyrikerin Ianina Ilitcheva sind anwesend.

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