Kino:Und ewig dröhnt die Bundesstraße

Im seiner Doku "B12" zeigt Christian Lerch das Leben auf einer bayerischen Raststätte - mit Szenen voll surrealem Charme.

Von Nicolas Freund

Bundesstraße 12 bei München. Ein überdimensioniertes Rasthaus, staubige Lastwagenparkplätze, ein alter Container dient als Toilette. Hier wohnt Lenz, und Lenz mag nicht mehr. Sein Körper ist "kaputt", der Sohn untervermietet angeblich das ganze Haus und seine Freunde erzählen alle nur Blödsinn. Wenn sie überhaupt zu Besuch kommen. Außerdem sieht er fast nichts mehr. Lenz ist 90 Jahre alt und von allem und jedem genervt, er möchte "nur noch sterben". Bei jeder Gelegenheit jammert er weinerlich in die Kamera: "Was ich alles mitmachen muss." Weil das in einer Tour so geht, spricht Lenz' Sohn Manfred manchmal Klartext: 50 Jahre rauchen, kein Sport, das ganze Leben neben der Fernstraße, da kann man froh sein, wenn man 90 wird. Nur, Lenz sieht das halt anders - und vielleicht ist es deshalb so faszinierend, ihm beim Granteln zuzusehen.

Der Regisseur Christian Lerch ist beim Vorbeifahren auf dieses etwas heruntergekommene Gasthaus aufmerksam geworden und hat irgendwann begonnen, Leben und Leiden seiner Bewohner über längere Zeit mit der Kamera festzuhalten. Zwischen hohen Tannen und Autoabgasen hat er eine besondere Form der Rasthofromantik gefunden - das Versprechen von der großen fernen Welt und vom Leben auf der Straße. Immer passiert etwas Neues, nur eben an einem festen Ort. Ohne Reise, ohne großes Risiko. Abenteuer Raststätte. Jeden Samstag ist Flohmarkt.

Gestorben wird im nächsten Leben

Zwei Generationen geballte LKW-Raststättenerfahrung auf einer Bierbank vereint: Lorenz „Lenz“ Gantner, der Held des Dokumentarfilms „B12“, mit seinem Sohn Manfred, genannt Mane.

(Foto: dpa)

Aber warum will Lenz unbedingt sterben? Aus bayerisch-barockem Pflichtgefühl? Den Schlaganfall hat er gut weggesteckt, und für Unterhaltung ist gesorgt: Wasserschaden, Tuning-Treffen, Vertreter für eine Bibel-App kommen vorbei, und Ehepaare, die einander totschweigen. Lenz ist zwar alt und krank, aber das hält ihn weder vom Bier ab, noch vom ständigen Streit mit Sohn und Kumpels. Er kennt jeden im Landkreis persönlich, der Veteranen- und Reservistenverein Forstinning verleiht ihm die goldene Ehrennadel. Läuft bei Lenz. Vielleicht will er nur etwas Aufmerksamkeit. Beiläufig und ganz bodenständig schneidet der Film große Lebensfragen an.

Christian Lerch hatte vor einigen Jahren viel Erfolg mit seinen Drehbüchern für Markus H. Rosenmüller: "Wer früher stirbt ist länger tot" oder der "Räuber Kneißl" waren Updates des deutschen Heimatfilms. Filme aus Bayern, die Bayern nicht in bierseligem Eigenlob zum Selbstzweck machten, sondern trotz Dialekt, Bier und Lederhosen noch eine Geschichte erzählten, die übers Regionale hinausging.

Irgendwie ist es konsequent, nach diesen Filmen die Kamera einzupacken und das echte Bayern, das Bayern neben den Fernstraßen, zu erkunden. Nur ist lange nicht ganz klar, mit welchem Kamerablick hier die bayerischen Ureinwohner eingefangen werden sollen - mit dem des Ethnologen oder dem des Boulevardreporters.

Die meisten Szenen sprechen für sich, manches wirkt dabei wie inszeniert, fast zu skurril, um wahr zu sein. Der Bibelvertreter verkündet feierlich, dass es übrigens zum "göttlichen Krieg kommen wird", und der Veteranenverein stellt fest, dass er - trotz schriftlicher Anfrage! - leider keine Kriege verhindern könne. Ein halber Schweinekopf zieht im Topf. Die Menschen hier ernähren sich fast ausschließlich von Fleisch, Brot und Bier. Fünf Halbe am Tag reichen aber, meint einer. Später wird der Schweinekopf am Tisch mit bloßen Händen zerlegt. "Restaurant ist vorbei", erzählt der Italiener, der den schlecht laufenden Gasthof gemietet hat. Lenz' Sohn Manfred weiß Rat: "Der Giuseppe konzentriert sich auf das, was er am besten kann, das ist Pizza-Service. Rausfahren. Das ist seine Stärke." Wenn die Kamera überfahrene Tiere festhält oder minutenlang Lenz dabei filmt, wie er versucht, sich im Auto anzuschnallen, kippt der Film ins Surreale.

Ungläubig lauscht man manchen dieser Dialoge über die Toten und die Lebenden. Viele Szenen könnte man direkt in einen Film von Ulrich Seidl einbauen. Eine apokalyptische Melancholie hängt über dem Rastplatz, das Versprechen vom prallen Leben - und auch, dass alles anders sein könnte. Ein Roadmovie, das nicht von der Stelle kommt. Aber unglücklich ist auch niemand. Außer Lenz, der so gerne sterben will, aber einfach nicht stirbt. "Das Leben ist so schön, wenn man jung und gesund ist, das kann man mit Worten gar nicht sagen." Und in der Ferne dröhnt die Bundesstraße.

B 12 - Gestorben wird im nächsten Leben, Deutschland 2018 - Regie: Christian Lerch. Kamera: Johannes Kaltenhauser. Verleih: Südkino Filmproduktion, 90 Minuten.

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