Kino:Traumhaft traumatisch

Dev Patel bewegt sich in "Lion" zwischen zwei Familien und zwei Müttern - eine ist Nicole Kidman. Ein kleines Filmmelodram mit ziemlich modernen Ansichten.

Von Fritz Göttler

Es könnte ein aufregendes fantastisches Abenteuer sein, dieser lange leere Zug, Kilometer um Kilometer zieht er durch die weite Landschaft, manchmal blicken Menschen draußen hinein, wenn er durch kleine Stationen fährt. Ein großer Zug, den ein kleiner Junge ganz für sich allein hat, das erinnert an die Traumexpeditionen des Little Nemo von Winsor McCay. Aber in Wirklichkeit es ist ein Albtraum, denn der Zug bringt den kleinen Saroo immer weiter weg von seiner Heimat, und wenn er endlich hält, nach einigen Tagen Fahrt, sind es mehr als tausend Kilometer Entfernung - die große Stadt Kalkutta.

Der fünfjährige Saroo lebt mit Mutter, Bruder und Schwester im Distrikt Khwanda im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh, aber all diese Namen sagen ihm natürlich noch nichts. Sein Bruder Guddu zieht jede Nacht los in die Stadt, wo er von den Güterzügen ein wenig Kohle klaut. Mit dem Geld, das er dafür bekommt, hält sich die Familie über Wasser. Saroo will immer mit, aber eines Nachts ist er in der Stadt dann einfach zu müde, Guddu zieht weiter und will ihn später abholen, Saroo soll im Bahnhof warten, er klettert in einen leeren Zug und schläft ein.

Lion

Unsentimentale Studie: Nicole Kidman und Dev Patel in "Lion".

(Foto: Long Way Home)

Eine wahre Geschichte, natürlich, es ist das Jahr 1986. Der kleine Saroo ist in Kalkutta verloren, er kann kein einziges Wort Bengali, das man dort spricht, und mit dem Namen, den er für seinen Heimatort angibt, weiß niemand etwas anzufangen. Er gerät unter Straßenkinder, wird von einer Frau aufgegabelt und fast zu zwielichtigen Praktiken missbraucht, landet schließlich im Waisenhaus. Schon ein Jahr später wird er dann nach Australien geschickt, das Ehepaar Sue und John Brierley hat ihn zur Adoption angefordert.

Google Earth kann hier sogar bei der Identitätssuche helfen

Dev Patel ist dann, zwanzig Jahre später, der Student Saroo. Patel wurde weltberühmt als Quizkandidat in Danny Boyles "Slumdog Millionär" und in den "Best Exotic Marigold Hotel"-Filmen, und war nach diesen Filmen festgelegt auf beharrliche, auch verstörte Jungs.

In "Lion" erscheint er nun erwachsen, durch lange Haare und schwarzen Bart, hat er seine Spitzbübigkeit verloren. Er studiert in Melbourne, mit seinen zwei Familien und zwei Heimaten, ausgerechnet Hotelmanagement. Ein Fremdsein steckt in ihm, das wieder zum Ausbruch kommt, als er bei Freunden an den Geschmack der indischen Süßigkeit Jalebi erinnert wird - ein gewissermaßen proustianischer Moment. Nun macht er sich an die Suche nach seiner Herkunft, nach seiner Mutter und seinem Bruder, sucht auf Google Earth nach Umrissen seines indischen Dorfes. Eine Vorstellung von Heimat ist das, die etwas Vages, reichlich Verschwommenes hat.

"Lion" ist der erste Spielfilm des TV- und Werberegisseurs Garth Davis, gerade arbeitet er an seinem zweiten, über Maria Magdalena. "Lion" ist ein Familienfilm, der durchaus seine sentimentalen Momente hat, aber sehr unsentimental, fast abstrakt die Gesetze der Familie studiert. Familiengefühle sind nicht biologisch begründet, sondern sozial konstruiert. Nicole Kidman spielt Sue, die australische Mutter, mit einer spießigen Achtzigerjahre-Frisur, aber mit unglaublich modernen Ansichten. Es herrscht eine schöne Gleichberechtigung in dieser Familie, ohne Abhängigkeit und autoritäre Strukturen. Kurz nach Saroo holt Sue noch einen zweiten Sohn aus Indien zur Adoption, der kommt mit dieser Freiheit nicht zurecht. Er will der Außenseiter bleiben, finster an seiner Unangepasstheit leiden. Saroos traumatische Such-Momente löst der Film dann doch traumhaft wieder auf. Mit Google Earth durch die Welt fliegen, sagt der richtige Saroo Brierley, nach dessen Erinnerungen der Film entstand, das ist, als wäre man Superman.

Lion, 2016 - Regie: Garth Davis. Buch: Luke Davies. Kamera: Greig Fraser. Musik: Hauschka, Dustin O'Halloran. Schnitt: Alexandre de Franceschi. Mit: Dev Patel, Rooney Mara, Nicole Kidman, David Wenham, Abhishek Bharate, Sunny Pawar, Divian Ladwa, Keshav Jadhav. Universum, 118 Minuten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: