Neu in Kino und Streaming:Welche Filme sich lohnen – und welche nicht

Lesezeit: 5 Min.

Auf dem Weg zur Weltmarke – die „Witwe Clicquot“ stellt guten Champagner her. (Foto: Capelight Pictures)

Ein Drogendealer fährt durch die Nacht von Teheran, Edgar Selge und Luna Wedler fahren nach Italien, und die Witwe Clicquot kämpft um ihren Champagner. Die Starts der Woche in Kürze.

Von Annett Scheffel, Susan Vahabzadeh, Anke Sterneborg, Fritz Göttler, Anna Steinbauer, Josef Grübl, Sofia Glasl

Bekenntnisse des Hochstaplers Thomas Mann

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Annett Scheffel: Keine Figur hat den Schriftsteller so lange begleitet: Wo hörte Thomas Mann auf, wo fing Felix Krull an? Diese Frage stellt Regisseur André Schäfer. Durch die originelle Verwebung von Biografie und fiktionalen Szenen verschmilzt der Autor mit seiner Romanfigur. Schauspieler Sebastian Schneider streift als androgyner, nachdenklicher Dandy Krull durch Schauplätze von Manns Leben und seines Fragment gebliebenen Schelmenromans und liest aus Briefen und Tagebüchern. Ein tastendes Psychogramm ohne klare Antworten, aber mit – Thomas Mann angemessen – viel kunstvoller Inszenierung.

Blitz

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Susan Vahabzadeh: Steve McQueen wirft noch mal einen neuen Blick auf England während des Blitzkriegs, und er findet eine Gesellschaft, die viel diverser war, als sie gemeinhin beschrieben wird. Der kleine George (Elliot Heffernan) lebt mit seiner Mutter Rita (Saoirse Ronan) und seinem Großvater (Paul Weller, der von The Jam) im Londoner East End. Solange George zu Hause war, spielte die Farbe seiner Haut keine Rolle für ihn. Nun aber soll der Neunjährige aufs Land, mit vielen anderen Kinder, ohne seine Mutter. George springt vom Zug und tritt den Heimweg allein an – ein gefährliches Abenteuer wie aus einem Roman von Charles Dickens. Auf seiner Reise trifft er auf menschliche Abgründe, auf Schönheit und auf Zusammenhalt – das ist bei McQueen auch in „12 Years A Slave“ schon die Rezeptur gewesen, aus der die Menschen die Kraft schöpfen, durchzuhalten. McQueen hat sie aber schon perfekter zusammengerührt als hier.

Critical Zone

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Anke Sterneborg: Abbas Kiarostami und Jafar Panahi haben das Auto als Ort der Freiheit und des Widerstands in Iran etabliert, nun übernimmt Ali Ahmadzadeh den Staffelstab und legt noch eins drauf. Denn ein Film über einen Drogendealer, das ist ein unerhörtes Wagnis in einem Land, in dem schon fürs Filmen Arbeitsverbot und Gefängnis, für Drogenkonsum die Todesstrafe droht. Wie in Trance gleitet Amir (Amir Poosti) durch die Nacht, um Jungen, Alten, Kranken, Verzweifelten, Einsamen ein wenig Linderung und Erlösung zu bringen, eine kleine Flucht auf Zeit aus dem Griff der allmächtigen Diktatur. Der in Locarno mit dem goldenen Leoparden ausgezeichnete Film eröffnet einen gleichermaßen unwirklichen und realen Raum, getragen von einer Soundscape aus Echolot-Klängen, Herztönen und Wolfsheulen, und von einer weiblichen Navi-Stimme, die monoton die Wege durch die Nacht definiert. Irgendwann beschreibt Amir sich selbst als den, „der den Geist der Stadt in der Hand hält“, mit ihm spielen könne, heiter oder harsch.

Die Weisheit des Glücks

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Fritz Göttler: Ein sehr weiser alter Mann nimmt vor der Kamera Platz, ein paar junge Gefährten helfen ihm dabei. Der Mann ist fast neunzig, der Dalai Lama Nummer 14, 1940 inthronisiert, 1950 floh er nach Indien, wo er bis heute in Dharamsala im Exil lebt. 1989 erhielt er den Friedensnobelpreis. Im Film von Barbara Miller und Philip Delaquis (Produzenten sind Richard Gere und Oren Moverman, Mitarbeit Manuel Bauer, der viel für den Dalai Lama fotografiert) spricht er direkt zum Publikum, in einfachen Sätzen, es geht um Gemeinschaftssinn, Misstrauen, Wahrheit, globale Erderwärmung, Geduld und Liebe, Vergebung und Verzicht auf Hass. Er interessiert sich für Technik und hat nichts gegen Shopping. Helden sind meist Killer, warum also nicht die Frauen in die Verantwortung? Das wird oft mit Stimmungsbildern illustriert, Wind, Meer, Terror, sehr oft auch mit historischen Aufnahmen – der Dalai Lama mit Mao oder beim Kraxeln in den Bergen. Und manchmal lacht er fröhlich über seine Sätze, ein naives, ansteckendes Kinderlachen.

Die Witwe Clicquot

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Fritz Göttler: Sie ist mit den Reben verheiratet, sagt Thomas Napper von der Heldin seines Films, Barbe-Nicole Clicquot Ponsardin, verkörpert von Haley Bennett. 26 Jahre alt war ihr Mann, als er starb, vom Opium zerstört, im Jahr 1806, damit beginnt der Film. Es war, das sieht man in Rückblenden, eine erdverbundene Liebe gewesen, und in diesem Sinne möchte die Witwe weitermachen – die Reben verbessern, beim Handel mit dem Ausland Napoleons Embargo umgehen. Es gibt jede Menge Widrigkeiten, Kälte oder verloren gegangene Lieferungen, und den Schwiegervater Clicquot, der die Aktivitäten der Witwe nicht billigt. Ein neuer Mann tritt ihr helfend zur Seite, Louis Bohne (Sam Riley). Der Geist der Französischen Revolution ist noch zu spüren, aber weiterhin wird die Dominanz der Männer nicht hinterfragt (Freiheit? Gleichheit?). Eine Frau darf gesetzlich kein Unternehmen führen. Es ist ein zäher, beharrlicher Kampf um Selbstbestimmung, auch vor Gericht – heute ist die Veuve Clicquot eine Champagner-Weltmarke.

Frau aus Freiheit

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Anna Steinbauer: Während sich Polen in den 1980er-Jahren vom kommunistischen Regime langsam in einen demokratischen Staat verwandelt, vollzieht sich in einer trostlosen Kleinstadt Andrzejs Transformation zu Aniela. Sanft aber mit poetischer Wucht erzählt die polnisch-schwedische Koproduktion den tragischen Freiheitskampf der Transfrau, die schon als Kind lieber den Erstkommunionsschleier der Spielkameradin und später dann heimlich die Pumps der Ehefrau trug. Mit großer Beharrlichkeit kämpft Aniela gegen gesellschaftliche und familiäre Widerstände, um die sein zu dürfen, die sie schon immer war. Das Regieduo Małgorzata Szumowska und Michał Englert packt dabei den Schmerz und die Einsamkeit des Unkonformen in eindrucksvoll anrührende Bilder.

Marianengraben

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Anna Steinbauer: Ob sie sterben oder einfach nur nicht leben wolle, fragt der Grantler mit dem Camper die Meeresbiologie-Studentin, die unfreiwillig zu seiner Reisegefährtin wird. In Trauer um eine geliebte Person vereint, begibt sich das ungleiche Paar auf einen abenteuerlichen Roadtrip zurück ins Leben, mit dem beide eigentlich abgeschlossen haben. Das Spielfilmdebüt „Marianengraben“ von Eileen Byrne nach dem gleichnamigen Bestseller ist eine tragische Komödie mit witzigen Slapstickelementen und tiefgründigen Dialogen. Das Beste daran ist die fantastische Besetzung des Schweizer Shootingstars Luna Wedler und des Charakterdarstellers Edgar Selge als Schicksalsgenossen. Da wird einem trotz all der Kratzbürstigkeit, Dickköpfigkeit und des Schmerzes warm ums Herz.

Martin liest Koran

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Annett Scheffel: Die Prämisse von Jurijs Saules Debütfilm ist so heikel wie inhaltlich effizient: Die Titelfigur, ein Familienvater, der den Islam für sich entdeckt hat, steht plötzlich vor dem Büro eines Islamwissenschaftlers. Der Professor soll ihm eine Koranstelle zeigen, die einen geplanten Bombenanschlag ausdrücklich verbietet. Trotz guter Darstellung (Zejhun Demiro, Ulrich Tukur) und kluger Dialoge ist der heimliche Star die viel bewegte, mit Zooms spielende und stets die Perspektiven wechselnde Kamera, die wie ein unsichtbar lauerndes Wesen auf das Geschehen blickt. Ein Paranoia-Kammerspiel zwischen Hass, Radikalisierung und Versöhnung.

Mascarpone 2: The Rainbow Cake

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Josef Grübl: „Folge einfach dem Rezept!“ Mit diesem Spruch wird der Italiener Antonio zum Back-Influencer, sein Regenbogenkuchen begeistert die LGBTQ-Community. Nur in der Liebe läuft es nicht: Als er seinen Ex wiedertrifft, hofft Antonio auf einen Neubeginn. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abschütteln. Alessandro Guida erzählt im zweiten Teil seiner schwulen Konditoren-Soap nicht viel Neues, er variiert nur bekannte Rezepte.

Red One – Alarmstufe Weihnachten

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Josef Grübl: Die Vorweihnachtszeit ist nicht unbedingt dafür da, um zur Ruhe zu kommen. Das gilt für gestresste Erdenbürger, vor allem aber für den Weihnachtsmann, der am Nordpol einem Logistikzentrum samt Backstube, Fitnessstudio und Geschenke-Verpackungsservice vorsteht. In Jake Kasdans Actionkomödie wird der alte rote Mann entführt – Weihnachten droht auszufallen. Es folgt eine Befreiungsaktion durch Dwayne „The Rock“ Johnson und Chris Evans samt Schneemann-Stunts am Strand, fiesem Hexenzauber und einem Watschn-Mann namens Krampus. Zur Ruhe kommt bei so viel Krawall und Kalauern garantiert keiner.

Red Rooms – Zeugin des Bösen

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Annett Scheffel: Eine junge Frau wird in den Prozess gegen einen Serienmörder verwickelt, bis Realität und morbide Dark-Web-Fantasien verschwimmen. Im Grund kennt man den Stoff aus Hunderten Krimiserien, aber in den Händen von Pascal Plante wird er zum albtraumhaften Trip. Der frankokanadische Regisseur seziert in diesem zutiefst verstörenden Psychothriller die zeitgenössische Obsession für True-Crime-Geschichten. Auch Juliette Gariépy in der Hauptrolle ist beunruhigend fesselnd. Ein Film, der einen nicht so schnell loslässt.

Spirit in the Blood

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Sofia Glasl: Ruhiges Kaff, religiöse Gemeinde, oberflächliche Idylle – eine Standardsituation für Teenager im Film. Die 15-jährige Emerson ist neu in der Stadt und fühlt sich unwohl in der überbehüteten Atmosphäre. Die prüfenden Blicke der Klassenkameraden, des Kirchenvorstands und des dominanten Vaters lassen ihr kaum Luft zum Atmen. Als eine Mitschülerin tot im Wald gefunden wird, bröckelt die Fassade schnell. Ein wildes Tier, sagen die Älteren und zücken die Jagdgewehre. Emerson und ihre neue Freundin Delilah vermuten ein viel weltlicheres Übel und machen sich selbst auf die Suche. Die metaphorische Coming-of-Age-Suche von Filmemacherin Carly May Borgstrom funktioniert immer dann gut, wenn sie reale Gefahr für junge Frauen in Bilder aus übernatürlichem Horror übersetzt. Die Story dahinter bleibt leider so holzschnittartig, dass diese regelrecht verpuffen.

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