Süddeutsche Zeitung

Neu in Kino & Streaming:Welche Filme sich lohnen - und welche nicht

Jamie Foxx metzelt für Netflix Vampire, und Jordan Peele, Hollywoods afroamerikanischer Regie-Meisterschüler, legt sich mit Aliens an. Die Starts der Woche in Kürze.

Von den SZ-Kritikern

Alcarràs - Die letzte Ernte

Philipp Stadelmaier: Trotz kleinerer Schwächen ist der zweite Spielfilm und diesjährige Berlinale-Gewinner der jungen spanischen Regisseurin Carla Simón ein schönes sommerliches Großfamilienporträt: Die von Laienschauspielern verkörperten Solés betreiben im katalanischen Hinterland eine Pfirsichplantage, die am Ende des Sommers nach der Ernte einer Solarfarm weichen muss. Bis dahin wird die Sonne aber noch von Simóns Kamera eingefangen, um Erinnerungen zu schaffen für eine Welt ohne Pfirsiche.

Day Shift

Juliane Liebert: Falls Sie schon etwas über die neue Vampirschlachtplatte von Netflix gehört haben - vergessen Sie's. Dies ist kein "John Wick" in der untoten Buddymovie-Version, auch wenn der Film sehr danach aussieht, sondern ein hartes Sozialdrama. Bud Jablonski (Jamie Foxx) muss nämlich die Zahnspange und das Schulgeld seiner Tochter bezahlen. Was ihn dazu zwingt, diverse Draculas zu enthaupten. Handicap: Die Gewerkschaft der Vampirmetzger hat ihm einen - weißen - Milchbubi als Aufpasser ans Bein gehängt (Dave Franco). Zum Glück snoopdoggt noch Snoop Dogg durch die Handlung, mit rauchenden Cowboyboots. Der ganze Schmarrn von J.J. Perry findet unter kalifornischer Sonne statt (motivische Spannung! Blutsauger! Licht! Got it?). Was soll da noch schiefgehen? (Auf Netflix).

Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr

Josef Grübl: Der deutsche Verleihtitel ist irreführend, er soll wohl an die ebenfalls ellenlang betitelten Abenteuer des fidelen "Hundertjährigen" von Jonas Jonasson erinnern. Im Film von Gillies MacKinnon geht es aber deutlich dramatischer zu, er erzählt von einem Neunzigjährigen (gespielt vom Mittsechziger Timothy Spall), der mit der Asche seiner verstorbenen Frau durch England fährt. Dabei begegnet er Menschen, die mal liebenswert, mal unliebsam sind, die ihn aus dem Bus werfen oder mit nach Hause nehmen. Und über allem liegt eine tiefe Traurigkeit, die nicht nur damit zu tun hat, dass der alte Mann sein eigenes Land kaum wiedererkennt.

Grand Jeté

Annett Scheffel: Nadjas Körper ist kaputt. Jahrelang hat die Balletttänzerin ihn geschunden und alles andere vernachlässigt. Ihr Sohn ist bei der Mutter aufgewachsen. Muttergefühle kennt sie nicht. Nach einer Familienfeier beginnen die beiden sich anzunähern - in einer inzestuösen Beziehung. In Isabelle Stevers Film gibt es genauso wenig Grenzen und Tabus wie in der Romanvorlage (Anke Stellings "Fürsorge"). Die Kamera ist extrem nah dran an den durchtrainierten, versehrten Körpern, die in einer Welt der emotionalen Entfremdung die einzige Ausdrucksform sind. Alles hier ist radikal und auf hypnotische Weise verstörend: die filmische Form und der Umgang mit sozialen Normen. Ein Ereignis!

The Humans

Anke Sterneborg: Familie und Thanksgiving, das ist traditionell vermintes Gelände, das gilt auch für die drei Generationen der Blakes, die sich im nur provisorisch ausgestatteten New Yorker Appartement treffen, das Bridge und ihr Freund Rich gerade angemietet haben. Die marode Wohnung mit ihren Blasen werfenden Wänden, verrosteten Rohren und unheimlich rumpelnden Geräuschen spiegelt die psychische Verfassung aller Familienmitglieder mit ihren diversen Existenzkrisen. Stephen Karam hat sein eigenes Theaterstück filmisch aufgelöst, als Kammerspiel im Spannungsfeld von distanzierten Totalen und extremen Nahaufnahmen, von Schärfe und Unschärfe. Grandiose Schauspieler wie Richard Jenkins, Amy Schumer und Steven Yeun lassen sich Dialoge auf der Zunge zergehen, die so verletzend und so liebevoll sind, wie es nur unter engen Verwandten möglich ist (auf Mubi.com).

Namaste Himalaya

Julia Brader: Keine Verpflichtungen zu haben und jeden Tag an einem anderen Ort aufzuwachen, davon träumen der Weltenbummler Michael Moritz und die Kamerafrau Anna Baranowski. Mit dem Ausbruch der Pandemie sitzen sie jedoch plötzlich im Himalaya fest und sind gezwungen, sich mit den Sorgen der Menschen vor Ort und den eigenen Privilegien als Reisende auseinanderzusetzen. Die mit der eigenen Kamera festgehaltenen Bilder und die Gespräche mit den Dorfbewohnern zeigen eindrücklich, was passiert, wenn man die Touristenperspektive verlässt. Eine sehenswerte Dokumentation fernab der "Van Life"-Stories, die man sonst so auf Social Media zu sehen bekommt.

Nope

Tobias Kniebe: Ein alter Schwarzer und sein erwachsener Sohn, beide Pferdetrainer, sind draußen auf den Koppeln ihrer Ranch bei L.A. Da braut sich über ihnen, jenseits der Wolkendecke, etwas zusammen. Dann pfeifen kleine metallische Alltagsgegenstände, wie Schlüssel und Münzen, aus den Wolken herab. Sie schlagen ein mit der Wucht von Gewehrkugeln. Der Alte wird getroffen und stirbt. In diesem Moment des Unerklärlichen könnte die Spannung kaum größer sein. Der Film und die halbgare Auflösung, die der hochbegabte Jordan Peele dann aber liefert, bleiben weit hinter seinem genialen Erstling "Get Out" zurück.

Republic of Silence

Martina Knoben: Ein sehr persönlicher Blick auf Syrien und seine jüngere Geschichte, auf Diktatur und Bürgerkrieg, Flucht und Exil. Diana El Jeiroudi und ihr Mann Orwa Nyrabia leben seit Jahren in Berlin, ihre Heimat Syrien mussten sie verlassen. Beide sind international bekannte Filmschaffende, unter anderem haben sie das syrische Filmfestival Dox Box gegründet. Die Regisseurin verbindet in ihrer Doku Erinnerungen an ihre Kindheit, mit Momentaufnahmen aus ihrem Leben in Berlin oder Reisen etwa nach Rom mit Nachrichtenbruchstücken zum Weltgeschehen. Wer nicht ganz firm ist in Nahostpolitik, hat allerdings Schwierigkeiten mitzukommen, bei diesem intensiven, radikal subjektiven Trip.

Sweet Disaster

Anke Sterneborg: Verlassene Frau, werdende Mutter, ganz allein (Friederike Kempter), das könnte ein niederschmetterndes Spülstein-Drama sein, doch Laura Lehmus kommt von Animation und Design und lässt ihre Fantasie spielen. Mit einer Fülle bunter Ideen und origineller Einfälle lockert sie die autobiografisch gefärbte Geschichte auf, verwandelt das Drama in eine märchenhafte Feelgood-Komödie, in der jedes Desaster einen erlösenden Tagtraum als Pendant bekommt und eine bunt zusammengewürfelte Schar von Freunden zur Ersatzfamilie zusammenwächst.

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