Sie sitzt im Wartesaal des Flughafens von Nancy, anscheinend gerade angekommen aus dem Nirgendwo. Eine wunderschöne Frau sicherlich, aber in ihrem bleichen Antlitz, in dem geheimnisvollen Blick, der zugleich nach innen und nach außen zu gehen scheint, liegt mehr als Melancholie, mehr als Traurigkeit. Die alltäglichen Geräusche des Flughafens durchbohren sie förmlich wie vergiftete Pfeile. Seltsam abwesend sitzt sie da: als hätte sie etwas Unfassbares erlebt, als würde unsagbarer Schmerz an ihrer Seele nagen.

Die Frau trägt den poetischen Namen Juliette Fontaine, und sie wird gespielt von Kristin Scott Thomas, einer der besten Schauspielerinnen unserer Zeit, die es versteht, sowohl in persönlichen europäischen Filmen wie diesem hier, als auch in großen Hollywood-Produktionen (wie "Der Pferdeflüsterer") Frauenporträts zu zeichnen zwischen Sinnlichkeit und Kontemplation, zwischen Wehmut und Erwartung.
Die geheimnisvolle Juliette wird abgeholt von ihrer jüngeren Schwester Lea (Elsa Zylberstein), die in Nancy verheiratet ist, zwei kleine Mädchen aus Vietnam adoptiert hat und als Literaturprofessorin arbeitet. Wie Juliette nun, die Frau, die nie existiert zu haben scheint, die Familie ihrer Schwester und die Stadt Nancy erlebt, und sich dabei Fetzen ihrer eigenen Geschichte offenbaren: das macht den Suspense im ersten Drittel des Films aus. Die merkwürdige schöne Tante mit Vergangenheit, aber ohne Familie - fünfzehn Jahre hat sie im Gefängnis gesessen, verurteilt wegen Mordes an ihrem eigenen, damals sechsjährigen Sohn. Die näheren Umstände der Tat bleiben Juliettes Mysterium.
Todtraurige Menschen
Philippe Claudels Regiedebüt erkundet gleichsam die Basis von Melodram und Thriller. Gefangensein, Schuld, Schmerz und Verlust sind für ihn beinahe existentielle Zustände, die nie ganz zu erklären sind. Juliette ganz und gar eine Kinofigur. Als vollkommene Außenseiterin, als Paria beinahe nimmt sie die Welt neu und anders wahr. In vielen Szenen ist sie so etwas wie das weibliche Pendant zu einem Kriegsheimkehrer oder einem einsamen Killer. Selten im Kino hat man einen weiblichen Loner so eindrucksvoll dargestellt gesehen wie hier.
Als eine Stadt der todtraurigen Menschen muss Juliette Nancy zuerst erscheinen. Ihr Bewährungshelfer ist ein verständnisvoller, aber schwer depressiver Polizist, der die Trennung von Frau und Kind nicht überwunden hat. In seinem Büro hängt ein großes Bild vom Fluss Orinoko. Eine geheimnisvolle, weit verzweigte Wasserader, schwärmt er, deren Quelle immer noch nicht ganz erforscht sei.
Die Sehnsucht nach dem Strom wirkt befreiend, sie besitzt aber auch bedrohliche Untertöne. Der Fluss erscheint als mythischer Ort, in dem Ursprung und Ende zusammenfließen. Zudem ist er auch Metapher für Juliettes unergründliche Seelengänge.
Wasser spielt eine beachtliche Rolle im Film: aber Juliette badet nicht in einem Fluss, sie zieht mit ihrer Schwester Lea Bahnen in einem Schwimmbad, wie bei einem Ritual der Reflexion und Reinigung. Auch wartet man den ganzen Film über auf das Fließen von Juliettes Tränen, die festgefroren ihre Augen zu versteinern scheinen.
Einen weiteren Mann lernt Juliette kennen: den Literaturwissenschaftler Michel. Auch er ist ein Mann der Geheimnisse und Enttäuschungen, der manchmal mehr Trost findet in Büchern als in Menschen. An eine Erzählung von Jean Giono würde sie ihn erinnern, sagt er zu Juliette, an die Novelle von der abwesenden Frau. Eines nachts bringt er Juliette nach Hause. Er will sie berühren. Und sie sagt: "Ich bin noch nicht da."
Anatomie des Seelenschmerzes
Im Grunde spielen die Männer aber Nebenrollen in Claudels Film, im Zentrum des Dramas steht die komplexe Beziehung zwischen den Schwestern. Die vitale Lea hat Juliette nie im Gefängnis besucht, auf Geheiß der Eltern. Und doch war Juliette immer anwesend in ihrem Leben wie ein Schatten. Lea hat sich geweigert, ein Kind auf die Welt zu bringen und deshalb zwei Kinder adoptiert, die als Geschwister aufwachsen. Von einem Mädchen gibt es keine Erkenntnisse über ihre Herkunft...
Claudel, bisher vor allem als Literat in Erscheinung getreten, hat sich für seinen Cine-Roman von Giono genauso inspirieren lassen wie von Hitchcock. Man denkt an "Vertigo", wenn Juliette durch ein Museum streift und sich selbst und ihre Situation erkennt in einem Gemälde, das Trauernde zeigt und den Titel "Schmerz" trägt.
Claudel unternimmt in seinem Film nichts Geringeres als eine poetische Anatomie des Seelenschmerzes, wobei er das Melodram, das auch die Naivität des Kintopp besitzt, mit unaufdringlichen Hinweisen auf Krebs, Alzheimer und den Irakkrieg verknüpft. Er gewährt uns sogar, wie es sich gehört für einen Thriller, eine überraschende Erklärung für Juliettes Tat. Aber Juliette stellt klar: Erklärungen sind wie Entschuldigungen. Und der Tod kennt sowieso keine Erklärung.
Das Gesicht von Kristin Scott Thomas dabei wird man nicht mehr vergessen, so andersartig schön, dass es nicht nur Verlust und Einsamkeit vermittelt, sondern auch die Hoffnung auf die Überwindung des Schmerzes.
Il y a longtemps que je t'aime, F 2007 - Buch und Regie: Philippe Claudel. Kamera: Jérôme Alméras. Mit: Kristin Scott Thomas, Elsa Zylberstein, Laurent Grévill. Verleih: Alamode. 115 Min.