Kino:Selbstliebe auf See

In ihrem neuen Film schickt die französische Regisseurin Lucie Borleteau ihre Protagonistin Alice in einem Containerschiff hinaus aufs Meer.

Von Philipp Stadelmaier

Eine junge Frau zieht ihre Bahnen im Meer, unter ihr schimmert das Blau. Sie schwimmt zu einem Felsen, auf dem ihr Freund auf sie wartet, der ihr das Salz von der Haut leckt und mit dem sie Sex haben wird. Und dem sie mitteilt, dass sie bald richtig in See stechen wird, für längere Zeit - auf einem Containerschiff.

Diese Szene fasst schon zusammen, was im Kern von "Alice und das Meer" steckt: Es geht um die Freude daran, einen Körper zu haben, an der frischen Luft zu sein, vom Ozean getragen und von anderen Körpern geliebt zu werden. So taucht das Containerschiff Fidelio auch schon bald aus dem Dunkel auf, während ein Motorboot Alice an Bord bringt - wie ein Versprechen des Unbekannten und des Abenteuers.

Das Tolle an Lucie Borleteaus Film ist nun aber gerade, dass dieses Unbekannte auch schon ein wenig vertraut ist. Alice (Ariane Labed) kennt das Schiff von früheren Ausfahrten - ebenso wie den Mann, den sie hier wiedertrifft, ein früherer Liebhaber (Melvil Poupaud), der nun ihr Kapitän ist. Wenn der Film im französischen Original "L'odyssée d'Alice", "Die Odyssee von Alice" heißt, dann ist das hier eben keine Anspielung mehr auf Männer, die einst wie Odysseus entlaufenen Frauen nachjagen und dann unerhörte Abenteuer erleben. Die Odyssee von Alice ist die erotische Odyssee einer jungen Frau. Aber eben nicht in diesem kitschigen Sinne, dass hier eine Frau auf hoher, wilder See in den Armen eines fremden, starken Mannes in ihr bis dahin verschlossene Fleischeslüste eingeführt würde. "Alice und das Meer" ist nicht "Alice im Wunderland" und die Protagonistin kein kleines Mädchen auf Initiationsreise, sondern eine toughe junge Frau, die sexuell und professionell weiß, worauf sie sich einlässt: Sie kennt ihren Liebhaber von früher, ebenso wie ihre Arbeit im Maschinenraum, mit der sie schon Erfahrung gesammelt hat. Dasjenige, was aufregend ist, und was Alice hinaus auf die See treibt, ist nicht das Unbekannte - sondern das, was sie kennt, und von dem sie weiß, dass sie es mag.

Eine Frau auf dem Wasser erinnert an Kate Winslet in Titanic? Nein, an Leonardo DiCaprio

So fragt man sich bei dieser Odyssee immer wieder: Was bleibt dieser jungen Frau eigentlich zu entdecken? Wenn auch immer wieder das Meer verheißungsvoll im Sonnenlicht glitzert und sich die Kamera manchmal ins Blau des Ozeans vernarrt - was sollte es an Bord eines Containerschiffes in einer vernetzten und globalisierten Welt noch Neues geben? Alice fährt nicht aufs Meer in der Absicht, mit fremden Kulturen in Kontakt zu treten, die sie ohnehin alle schon kennt, auch unter der Gürtellinie: Sie habe, wie sie einmal in einer Runde mit ihren Kollegen trocken bemerkt, schon auf allen Kontinenten Penisse gesehen.

Alice bleibt bei dieser Odyssee vor allem bei sich, und das heißt zunächst: unter den Ihren, unter Franzosen. Auch die Tatsache, dass sie die einzige Frau an Bord ist, wird nicht als Außergewöhnlichkeit verkauft. Wenn sie in einer sehr schönen Szene am Bug des Schiffes steht und der Kapitän sie fragt, ob sie gerade Kate Winslet in "Titanic" spiele, meint sie nur: "Nein, eher Leonardo DiCaprio". Die Gemeinschaft an Bord ist ebenso harmonisch wie spannungsreich: also absolut ausgeglichen, in höchstem Maße gewöhnlich. Man scherzt zusammen, aber dann kommt auch mal einer der Typen nachts in ihre Kabine und versucht, sie im Schlaf zu befummeln. Man arbeitet mit Philippinern zusammen, aber die Gespräche bei einer Grillparty an Deck drehen sich darum, dass Europa ein Problem "with the strangers" habe, die aus Afrika kommen.

Ist diese Gemeinschaft eine Odyssee wert? Das stark akzentbehaftete Englisch im Mund der Franzosen hört sich jedenfalls schon wieder komisch an, und so entdeckt Borleteau, wie ihre Heldin, das Unbekannte stets im Bekannten. Sie macht sich keine Illusionen über die gängige Mischung aus Xenophobie und Sexismus an Bord eines modernen Containerschiffes, aber sie zeichnet die einzelnen Personen mit der ihnen eigenen Poesie und Lebensfreude, etwa wenn sich die Besatzung einmal bizarre Fantasiekostüme anzieht und eine Party veranstaltet. Für ihren Film gilt, was der große französische Cineast Jean Renoir einmal bemerkt hat: "Wenn man die Wirklichkeit so lässt, wie sie ist, wird sie märchenhaft."

Wenn hier aber das Bekannte mit neuem Zauber angereichert wird, dann bezieht sich das nicht nur auf ein altes Schiff, eine Affäre oder eine Gruppe von durchschnittlich coolen Seeleuten. Sondern vor allem auf Alices Körper, über den die Kamera einmal im Bett hinweggleitet, über Leberflecke und Härchen: ein Körper, der den Ozean befährt; ein Körper, der (sich) genießt. Jede Einstellung von Borleteau ist eine Freude, eine kleine lustgeladene Sensation, vor allem, wenn sie ihre Protagonistin beim Sex oder beim Masturbieren filmt: Ihr Respekt vor dem Körper ihrer wunderbaren Hauptdarstellerin Ariane Labed und das Glück des Orgasmus übertragen sich auf die Atmung des gesamten Films.

Das Einzige, was ein Problem für Alice ist, die sich bald zwischen zwei Männern wiederfindet, ist die Liebe. Von der liest Alice auch im Tagebuch eines gestorbenen Seemanns, der von einem sehnsuchtsvollen Leben ohne Liebe erzählt. Wenn nun die alte Affäre Alices mit dem Kapitän zu neuem Leben erweckt wird, dann geschieht das nicht, um sie die wahre Liebe finden zu lassen. Sondern um von der mit dem alten Seemann gestorbenen Idee einer unauffindbaren, absoluten Liebe zu der schlichten Freude zu gelangen, einen Körper zu haben, zu wissen, was er mag und mit ihm über die See zu reisen.

Fidelio, l'odyssée d'Alice, Frankreich 2014 - Regie: Lucie Borleteau. Buch: Borleteau, Clara Bourreau. Kamera: Simon Beaufils. Mit Ariane Labed, Melvil Poupaud, Anders Danielsen Lie. Film Kino Text, 97 Minuten.

Film "Alica und das Meer"

Alice erwartet auf ihrer Reise keine Abenteuer und auch nicht die ganz große Liebe. Sie genießt sich einfach selbst.

(Foto: Verleih)
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: