"Pelikanblut" im Kino:Jedes Kind ist ein Vampir

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Ein blonder Engel - oder nicht? Wiebke (Nina Hoss) und ihre Adoptivtocher Raya (Katerina Lipovska). (Foto: Temelko Temelkov/DCM)

Kann ein fünfjähriges Adoptivmädchen das Böse in sich tragen? Klingt nach Horrorfilm, aber "Pelikanblut" von Katrin Gebbe ist mehr: Nina Hoss durchlebt den Albtraum einer alle Grenzen sprengenden Mutterschaft.

Von Martina Knoben

Kann eine Mutter zu sehr lieben? Die spontane Antwort lautet: Ja. Beispiele sieht man auf jedem Spielplatz. Um Mamas, die jeden krümeligen Sandkuchen mit Applaus quittieren, ihr Kind auf der Rutsche keine Sekunde aus den Augen lassen und das für Liebe halten, geht es in "Pelikanblut" allerdings nicht. Die Filmemacherin Katrin Gebbe stellt die Frage viel radikaler: Wenn ein Kind die Familie kaputtmacht, die Gesundheit der Mutter ruiniert und wirklich Böses tut - sollte Mutterliebe dann eine Grenze haben?

Der Titel des Films bezieht sich auf eine Legende aus der Antike. Als eine Pelikanmutter während einer Hungersnot nicht mehr weiß, wie sie ihre Kinder ernähren soll, reißt sie sich mit dem Schnabel die Brust auf und gibt ihr Blut den Jungen zu trinken. Schließlich fliegt der Nachwuchs ins Leben, die alte Pelikanmutter aber stirbt. Aus dem Vogel, der sein Leben verschenkt, wurde später ein Christussymbol. Im Film ist eine Abbildung davon in einem bulgarischen Waisenhaus zu sehen. Sie hätte Wiebke (Nina Hoss) eine Warnung sein können. Katrin Gebbe wird in "Pelikanblut" das Bild der blutigen Brust schockierend wörtlich nehmen.

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Wiebke kommt in das Waisenhaus, um ein Kind zu adoptieren - die fünfjährige Raya (Katerina Lipovska), die mit ihren blonden Haaren und der niedlichen Zahnlücke aussieht wie ein kleiner Engel. Wiebke hatte zuvor schon ein Mädchen aus Bulgarien zu sich genommen, die neunjährige Nikolina, die längst wie eine leibliche Tochter für sie ist. Wiebke betreibt einen Reiterhof; sehr idyllisch sieht das aus, wenn sie im Morgenlicht die Tiere füttert, und Nikolina Müsli serviert. Dann trainiert sie mit Cowboyhut, in Jeans und kariertem Hemd ihre Pferde, und die Landschaft leuchtet in Marlboro-Gold.

Raya erinnert an Regan, das Mädchen, das den Teufel im Leib hatte, in "Der Exorzist"

Die kleine Raya soll dieses Glück perfekt machen, auch Nikolina freut sich sehr über die kleine Schwester. Bald aber wird klar, dass mit Raya etwas nicht stimmt. Sie reißt Nikolinas Lieblingskuscheltier ein Bein ab, schmiert das Badezimmer mit Kot voll, steckt das Kinderzimmer in Brand und zwingt kleinere, schwächere Kinder zu "Doktorspielen", die Vergewaltigungen sind. Spricht man sie darauf an, schreit sie mit süßem, aber unheimlichem Akzent: "Ich war das nicht" und verweist auf ein insektenartiges Monster, das sie an die Wand gekrakelt hat.

Ein blonder Engel - oder nicht? Wiebke (Nina Hoss) und ihre Adoptivtocher Raya (Katerina Lipovska). (Foto: Temelko Temelkov/DCM)

Katerina Lipovska als Raya ist wirklich verstörend. Gebbe hat die junge Darstellerin bei einem Kindercasting in Bulgarien entdeckt - ein Glücksfall. Dass das Böse auch mal in niedliche Kinderkörper fährt, konnte man schon in diversen Gruselklassikern studieren: In "Das Omen", wo der hübsche kleine Damian auf einem Dreirad mit eiskaltem Blick seine Mutter über eine Brüstung stürzt. Oder in "Der Exorzist", wo ein Mädchen, vom Teufel besessen, mit schauerlicher Stimme Obszönitäten brüllt. Es dauert jedenfalls nicht lange, bis Nikolina und Wiebke Angst vor Raya haben - und der Zuschauer auch.

Obwohl Katrin Gebbe von Anfang an mit Genre-Elementen arbeitet, der Soundtrack und die düsteren Bilder von aufgeschreckten Pferden oder dem Mond hinter Wolken auf einen Horrorfilm deuten, wirkt die Geschichte zunächst völlig realistisch. Wiebkes Recherchen ergeben, dass Raya als Kleinkind schwer traumatisiert wurde, sie eine "Systemsprengerin" ist, wie das Mädchen in Nora Fingscheidts gleichnamigem Film, das so Schlimmes erlebt hat, dass es aggressiv und gefährlich ist und nirgendwo hinpasst. Ein Psychiater hat auch gleich das passende Störungsbild für Raya parat. Das beruhigt.

Wo Fingscheidt jedoch wirklichkeitsnahe Figuren entwirft und ein Erziehungshilfesystem nachzeichnet, das an seine Grenzen kommt, zielt Katrin Gebbe auf ein Gefühl, das dem Kino auch nicht fremd ist - den Horror und das Mysterium der Mutterschaft. In Roman Polanskis klassischem Schocker "Rosemary's Baby" etwa schaukelt Mia Farrow am Ende das Kind des Satans in den Schlaf, während ein Lächeln seligen Mutterglücks sich auf ihrem Gesicht ausbreitet. "Pelikanblut" vermischt Horrorfilm, Drama und Psychothriller, sehr eigen und beunruhigend, weil man sich nicht mehr in Genreerklärungen flüchten kann.

Wiebke stillt die Fünfjährige mithilfe von Hormontabletten. Wer ist hier besessen?

Dabei ist immer weniger klar, was von Wiebke zu halten ist. Sie will Rayas seelische Verkrüppelung durch Liebe heilen, ihr die Kindheit geben, die sie nicht hatte. Deshalb trägt sie die Fünfjährige im Tragetuch auf dem Rücken und stillt sie schließlich sogar, mithilfe von Hormontabletten. Das wirkt fast so abstoßend wie Rayas Übergriffe. Besonders scheußlich: wenn Wiebke die Milch einschießt und sich nasse, runde Flecken auf ihrem T-Shirt ausbreiten. Wer ist hier besessen?

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In ihrem Bemühen um Raya kümmert sich Wiebke kaum noch um ihre andere Tochter Nikolina. Adelina-Constance Ocleppo spielt sie verhalten. Aber ihr Spiel, ihre großen Augen sind so präsent, dass die Vernachlässigung dieses klugen, freundlichen Kindes immer im Blick bleibt.

Brillant ist vor allem Nina Hoss als Wiebke. Sie ist eine starke, kämpferische Frau, von Anfang an aber sieht man ihr auch ihre Versehrtheit an. Die Narbe unter ihrem Auge stammt wohl nicht von einem Reitunfall. Und warum ist sie so spröde und hält den netten Polizisten Benedikt (Murathan Muslu), der rührend um sie wirbt, immer wieder auf Distanz?

Jedes Kind ist auch ein Vampir, aber Nina Hoss, die so häufig beherrschte Frauen gespielt hat, lässt Wiebke zunehmend jede Fassung verlieren. Ihr Gesicht spiegelt wachsende Erschöpfung, ihre ganze Persönlichkeit scheint in Auflösung zu sein. Schon Katrin Gebbes viel beachteter Erstling "Tore tanzt" aus dem Jahr 2013 war eine radikale Passionsgeschichte.

In dem Maße, in dem Wiebke ihre Kräfte wegschenkt, werden auch die Bilder immer grauer, als würde alles verdorren, aus dem Leben alle Farben herausgezogen. Gedreht wurde in Bulgarien - weil sich ein so fremdartiger, geografisch nicht fassbarer Ort in Deutschland nicht finden ließ? Am Ende vertraut sich Wiebke einer Schamanin an, auch diese spricht mit fremdländischem Akzent. Ihr Ritual lässt den Film etwas zu eindeutig ins Spirituelle und Schwarzmagische kippen, die Nabelschnur zur Realität aber wird nie ganz gekappt. "Wenn man auf eine Reise geht", sagt die Schamanin, "kommt man anders zurück." Das gilt auch für diesen Film.

Pelikanblut - Aus Liebe zu meiner Tochter , D/Bulgarien 2019 - Regie und Buch: Katrin Gebbe. Kamera: Moritz Schultheiß. Schnitt: Heike Gnida. Musik: Johannes Lehniger. Mit: Nina Hoss, Katerina Lipovska, Adelina-Constance Ocleppo, Murathan Muslu, Yana Marinova. Verleih: DCM, 121 Minuten.

© SZ vom 26.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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