Kino: "My Blueberry Nights" von Wong Kar-Wai:Blau wie ein Veilchen

Wong Kar-Wais "My Blueberry Nights" kommt ohne schwitzende Sexszenen aus und ist dennoch voller erotischer Spannung. Norah Jones und Jude Law feiern einen der schönsten Kinoküsse der Filmgeschichte.

Rainer Gansera

In der Galerie der schönsten Kinoküsse wird man dieser Lippenberührung zwischen Jude Law und Norah Jones einen Ehrenplatz einräumen müssen: ein zarter, verstohlener Kuss, der Wong Kar-Wais Liebesballade seinen zauberisch-melancholischen Grundton schenkt. Schauplatz: ein kleines New Yorker Café um Mitternacht.

Kino: "My Blueberry Nights" von Wong Kar-Wai: Geschmackvoller Kuss: Jude Law und Norah Jones.

Geschmackvoller Kuss: Jude Law und Norah Jones.

(Foto: Foto: dpa)

Der Mond, die Straßenlaternen und das Neonlicht der Kuchenvitrinen sorgen für magische Beleuchtung. Wieder einmal ist die feenhaft schöne Elizabeth (Sängerin Norah Jones in ihrer ersten Filmrolle, die sie mit souveräner Leichtigkeit meistert) der einzige Gast. Wieder einmal hat der britische Café-Besitzer Jeremy (mit bezwingendem Charme: Jude Law) ihren Erzählungen geduldig zugehört, hat Fragmente einer traurigen Geschichte vom Geliebten, der sie verlassen hat, vom Nicht-von-ihm-loskommen-Können erfahren, und kann selbst eine ähnliche Story beisteuern.

Erotisch in jeder Faser

Dann hat Elizabeth ein Stück Blaubeerkuchen mit Vanilleeis gegessen, hat den Kopf auf die Theke gelegt und ist eingeschlafen. Jeremy räumt das Geschirr beiseite, putzt den Tresen, betrachtet die schlafende Nachtfee, zuerst amüsiert, dann verzaubert. Schließlich wagt er es doch, ganz vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, als wolle er nur die Blaubeerkuchenkrümel und Vanilleeistupfer von ihren Lippen wegküssen.

Ein keuscher Kuss. In "My Blueberry Nights" gibt es keine nackten Leiber, die sich in Betten wälzen, keine schwitzenden Sexszenen. Aber wie Wong Kar-Wai die verdichteten, in blau-rote Schattenspiele getauchten Räume filmt, wie sich seine Kamera in die Darsteller verliebt - das ist erotisch in jeder Faser. Von einem taktilen Eros, und von einer Melancholie, die sich, einer Bemerkung Goethes gemäß, als "Sehnsucht nach Schönheit" offenbart.

15 Kameraperspektiven für einen Kuss

Der 1958 in Schanghai geborene und in Hongkong aufgewachsene Wong Kar-Wai, einst Galionsfigur der Hongkong Nouvelle Vague, kann große Gemälde entwerfen, für die er sich, detailbesessen wie er ist, jahrelang Zeit lässt (wie "In the Mood for Love", seinem Meisterwerk aus dem Jahr 2000). Aber er kann auch schneller, skizzenhafter arbeiten, wie bei "Chungking Express" (der ihn 1994 berühmt machte) oder jetzt bei "My Blueberry Nights", seinem ersten ganz in Amerika und in englischer Sprache gedrehten Film, der die Filmfestspiele von Cannes 2007 eröffnete.

Auf der nächsten Seite lesen sie, warum der Blaubeerkuchen zu dem größten Verlassenen gehört.

Blau wie ein Veilchen

Immer geht es bei ihm darum, aus dem Dahinfließen flüchtiger Augenblicke einen herauszufischen, der zur Kostbarkeit geformt wird. Wie diesen Kuss, an dem drei Tage lang aus 15 verschiedenen Kameraperspektiven gedreht wurde, und der dann im fertigen Film, komprimiert wie ein Kristall, nur wenige Sekunden lang ist.

Nach dem Kuss verschwindet Elizabeth aus New York. Sie durchquert die USA von Ost nach West, auf der Route 66. Eine Selbstfindungstour, die Abstand schaffen soll und kinomythische Schauplätze aufsucht: Memphis, die Wüste von Nevada, Las Vegas. Elizabeth jobbt als Kellnerin und begegnet Schicksalen, die ihr trauriger noch als ihr eigenes erscheinen.

"Nur" eine Beobachterin?

In Memphis beobachtet sie das im Alkohol versinkende Endstadium einer Liebestragödie zwischen dem Polizisten Arnie (bewegend: David Strathairn) und dessen Ehefrau Sue Lynne (glamouröse femme fatale: Rachel Weisz). In Las Vegas befreundet sie sich mit der Pokerspielerin Leslie (charismatisch kokett: Natalie Portman), die den Kontakt zum Vater, von dem sie alle Spielertricks und Lebensweisheiten ("Traue keinem Menschen") gelernt hat, vollständig abgebrochen hat. Zwei Arten also, mit dem Schmerz umzugehen: Arnie versinkt in seiner Verzweiflung, Leslie schottet ihre Gefühle ab und lässt nichts an sich herankommen.

Zwei Wege, die in Sackgassen führen, und Elizabeth, die in Memphis Lissie und in Las Vegas Beth genannt wird, lernt, dass sie weder eine im Selbstmitleid vergrabene Lissie, noch eine die Coolness als Fassade aufrichtende Beth sein will. Sie schickt Postkarten an Jeremy in New York. Der Krümelkuss schwebt wie ein guter Stern über ihrer kleinen Odyssee und wird ihr den Rückweg weisen.

Fans von Wong Kar-Wai mögen es bedauern, dass die Heldin hier über weite Strecken "nur" wie eine Beobachterin durchs Geschehen driftet. Um solche Reflexion, um Spiegelungen aller Art hat Wong Kar-Wai seine Bilder konzipiert: wenn sie sich sanft und vorsichtig in die Gesichter hinein tasten, wenn die suchenden Schwenks und Schärfeverlagerungen die Räume auflösen und neu konstruieren, wenn die Schriftzüge auf den Schaufensterscheiben wie rätselhafte Prophezeiungen und Bilder-Tätowierungen erscheinen, wenn das Blaubeerkuchenblau bis hin zum Schwarz und Rot durchdekliniert wird.

Gleich zu Beginn erklärt Jeremy, Solidarität heischend, dass auch dieser Kuchen in der Vitrine zu den großen Verlassenen gehört: "Käse- und Apfelkuchen sind jeden Abend weg. Vom Pfirsichkuchen und der Schokoladentorte bleiben nur wenige Stücke. Aber es bleibt immer ein ganzer Blaubeerkuchen übrig!"

MY BLUEBERRY NIGHTS, USA/Hong Kong China 2007 - Regie: Wong Kar-Wai. Buch: Wong Kar-Wai, Lawrence Block. Kamera: Darius Khondji. Musik: Ry Cooder. Mit: Norah Jones, Jude Law, Rachel Weisz, Natalie Portman, David Strathairn, Hector Leguillow, LaVita Brooks, Cat Power. Prokino, 95 Min.

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