Süddeutsche Zeitung

Kino:Märchen aus dem Kalten Krieg

Bei den 74. Filmfestspielen von Venedig hat das Kino gewonnen. Ausgezeichnet wurden am Ende Filme, die ihre Macht nur auf der großen Leinwand entfalten, wie die Bilderorgie "The Shape of Water".

Von Susan Vahabzadeh und Thomas Steinfeld

Guillermo Del Toros "The Shape of Water" ist ein Wachtraum von einem Film, von surrealer Schönheit, voller bedrohlicher Bilder, die immer wärmer und heimeliger werden. Del Toro hat sich eine Geschichte aus dem Kalten Krieg ausgedacht - der Agent Strickland (Michael Shannon) hat am Amazonas ein Wasserwesen gekidnappt und in ein Geheimlabor verschleppt, es soll zur Waffe gegen die Russen umfunktioniert werden, oder doch wenigstens seziert. Die Kreatur ist hier im Zentrum der Geschichte - und sie ist dann gar kein Monster, sie ist einfach nur ein Außenseiter, dessen Retterin (Sally Hawkins) sich hoffnungslos verliebt.

"The Shape of Water" ist eine blaugrüne Sechzigerjahre-Fantasie, aber unter den märchenhaften Bildern von schwebenden Unterwasserprinzessinnen und Nachkriegsdekors sind Spuren gelegt in die Gegenwart. Die Schutztruppe, die sich um das Wasserwesen bildet, ist spanischstämmig, schwarz, schwul - zwei Putzkräfte und ein arbeitsloser Werbegrafiker, lauter Underdogs, die nach oben schwimmen. "Sie, die bei Tage träumen", fand Edgar Allen Poe, "haben Kenntnis von manchen Dingen, welche denen entgehen, die nur bei Nacht zu träumen pflegen."

Man kann bei jedem Festival darüber streiten, welcher Wettbewerbsfilm nun der beste gewesen sein mag - 21 haben um den Goldenen Löwen bei der 74. Mostra auf dem venezianischen Lido konkurriert. Die Jury, Präsidentin war die Schauspielerin Annette Bening, hat sich auf jeden Fall für perfekt gemachtes, expressives, malerisches Kino entschieden. Für Filme, die nur auf einer großen Leinwand ihre Macht entfalten - und sich nicht auf die Zufälligkeit der Bilder verlassen, die ausreicht, wenn man ohnehin nur noch die kleinen Fernsehschirme und Computer-Displays im Kopf hat, die nach Großaufnahmen und viel gesprochenem Wort verlangen.

Den großen Preis der Jury bekam Samuel Maoz, der 2009 schon einmal einen Goldenen Löwen bekommen hat, für "Lebanon". In "Foxtrot" lässt er einen die Dauerbedrohung in Israel am Beispiel einer Familie spüren. Ein Paar lebt in einem kalten Appartement in Tel Aviv, das auf seine eigene, grafische Art so unsicher wirkt wie der schiefe Container, in dem beider Sohn schläft, an einem Kontrollpunkt in der Wüste. Alles spielt hier auf unebenem Grund.

Das ist ganz anders als "The Shape of Water", aber "Foxtrot" ist eben auch ein Film, in dem jede Suppendose, die ins Bild kommt, mit Bedacht ausgesucht ist, in dem Kameraarbeit, ein Farbspektrum und die Dekors mindestens eine so wichtige Rolle spielen wie die Hauptdarsteller. Der Sohn, teilt die Armee den Eltern kühl mit, sei ums Leben gekommen. Beide drehen auf unterschiedliche Art durch, die israelische Armee hat dafür ein vorgefertigtes Auffangprogramm. Nicht planbar war, dass sie den Eltern nach fünf Stunden mitteilen, dass der Sohn wohlauf ist - es wurden zwei Soldaten verwechselt. Der Film wechselt dann zu dem Stützpunkt, zu den fünf Jungs, die in der Einöde ihren Dienst tun, immer voller Angst vor dem nächsten Wagen, der sich aus dem Nichts nähert.

Beide haben ihre Preise verdient - es gab überhaupt ziemlich viele Filme im Wettbewerb in diesem Jahr, die auf ihre Art außergewöhnlich sind und von denen man noch hören wird. Der Spezialpreis der Jury ging an den Australier Warwick Thornton, der in "Sweet Country" ein Aborigine-Paar in den Zwanzigerjahren zeigt, Sam und Nell. Sie arbeiten für einen Prediger, der gut mit seinen Leuten umgeht - aber überall um sie herum werden die Aborigines im Grunde versklavt, und als Sam in Notwehr einen durchgeknallten Weißen erschießt, bleibt den beiden nur noch die Flucht durch den kargen Outback. Für das beste Drehbuch wurde Martin McDonagh ausgezeichnet, und sein "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" hat tatsächlich die besten Dialoge - ganz sicher die wichtigsten. Der Film ist eine Art Frauenwestern, in dem sich Frances McDormand mit dem Sheriff anlegt. Und dann verpasst sie einem Kuhkaff, in dem Machtverhältnisse herrschen wie bei den Pionieren, einen gehörigen Zeitsprung in die Gegenwart.

Noch ist die Gewalt kaum zu greifen, sie artikuliert sich in nicht justiziablen Stimmungen

Wenn man diese Filme sieht, dann ist es klar, dass die Krise, in der sich das Kino tatsächlich befindet, nicht damit zu tun haben kann, dass keiner mehr großartige Geschichten zu erzählen hat oder im Zweifelsfall nicht weiß, wie er das tun soll. Das amerikanische Kino hat in Venedig dominiert, mit neun von 21 Filmen - Guillermo Del Toro ist Mexikaner, der Film aber ist eine richtige Hollywood-Produktion. Und Hollywood hat gerade den schlechtesten Sommer aller Zeiten erlebt, einen Rückgang von fast 15 Prozent zu Hause, und erzielte global nur deswegen ein passables Ergebnis, weil die Chinesen, denen die großen Blockbuster noch relativ neu sind, fleißig ins Kino gehen.

Die Antwort wird dann aber wohl weiterhin nicht sein, auf ungewöhnliche Geschichten zu setzen, Originalität, wie sie Guillermo Del Toro oder McDonagh oder Maoz bieten. Zuletzt suchte das Kino sein Heil in technischer Spielerei - 3-D sollte alle Probleme lösen, die neue Kino-Ära war dann aber kurz. Inzwischen spielt 3-D kaum noch eine Rolle. Das aktuelle Rezept: das Publikum mit noch mehr realem Erlebnis in die Säle zurückzulocken, mit Virtual Reality. Der hat Venedig als erstes Festival einen eigenen Wettbewerb auf einer kleinen Nachbarinsel gewidmet. Mit nur zwei Ausnahmen waren alle Filme in der Konkurrenz englischsprachig - auch diese neue Technik wird vor allem von amerikanischen Firmen weitergetrieben. Da gab es Dokumentarfilme wie "Loveless" über Prostitution im koreanischen Niemandsland, das nur amerikanischen Soldaten gehört, und "Snatch", basierend auf Guy Ritchies Film, eher ein Spiel. "Loveless" hat einen der drei Preise bekommen. Gina Kim lässt einen da einem Mädchen folgen wie einem Geist, durch die gruselig entvölkerten Straßen einer kleinen Garnisonsstadt, bis in das ärmliche Zimmer, in dem sie ermordet wurde. Das ist vor allem dann aufregend, wenn einem diese Technik noch neu ist. Genau genommen kann einem das Kino ja aber auch in seiner ganz traditionellen Art unter die Haut gehen.

Traditionell - im Sinne von: mit handwerklichem Können gefertigt und von einem Willen zur Erzählung geprägt - war ein Film, der als Entdeckung dieser Festspiele gelten darf: Das Sozialdrama "Jusqu'a la garde" ("Custody") ist das Spielfilmdebüt des französischen Regisseurs Xavier Legrand, und es ist so beeindruckend, weil es eine gewöhnliche Geschichte mit einer ungewöhnlichen Aufmerksamkeit und Präzision erzählt: Eine Frau hat sich, irgendwo in der französischen Provinz, von ihrem Mann getrennt und reklamiert in den Scheidungsverhandlungen das alleinige Sorgerecht für den zwölfjährigen Sohn. Zwar stellt der Vater, wie der Zuschauer bald ahnt, eine tatsächliche Bedrohung von Mutter und Sohn dar - aber noch ist die Gewalt kaum zu greifen, sie artikuliert sich in Stimmungen, was vor Gericht nichts taugt. Und so nehmen die Dinge ihren zunehmend schrecklichen Lauf.

Unbehaglich ist es, der Mutter (Léa Drucker) zuzusehen, wie sie ihren früheren Mann auf möglichst viel Abstand zu bringen versucht. Aber die vergangene Intimität sitzt tief. Unbehaglicher ist es, der gerade erwachsen gewordenen Tochter (Mathilde Auneveux) zuzusehen, wie sie auf ihrer Geburtstagsparty "Proud Mary" singt, zum Jubel des Publikums, während ihre Gedanken doch bei Mutter, Bruder und dem Vater sind, der in seinem kleinen Lieferwagen vor der Tür steht. Noch viel unbehaglicher ist es, den Vater (Denis Ménochet) zu betrachten, wie er sein Leben zu retten versucht, mit lauter falschen Mitteln, während in ihm die Bereitschaft zur Gewalt wächst - oder der Wille, sich das Glück, das er doch nie besaß, unter Einsatz aller Mittel zurückzuholen. Und das alles ist Mimik, Körpersprache, Intonation.

Eine Familie ist auseinander gebrochen, nach einem unerklärt bleibenden Verbrechen

Nahezu unerträglich ist es, dem Zwölfjährigen (Thomas Gioria) in seiner Not zuzusehen. Der Zuschauer teilt seine Angst, spürt, wie sie sich in der Tiefe des Bauchs aufbaut, wie sie im Körper emporkriecht, bis sie die Kehle ergreift und nicht einmal mehr ein Weinen möglich ist. Für diesen Film erhielt Xavier Legrand zwei Auszeichnungen, den Silbernen Löwen für die beste Regie und den "Löwen der Zukunft" für das beste in Venedig gezeigte Erstlingswerk, und beide Preise hat er zu Recht bekommen.

Wer in den 21 Filmen die besten Schauspieler waren: Auf diese Frage dürfte es fast ebenso viele Antworten geben. Die Jury entschied sich für Kamel El Basha, der mit stoischem Gesicht und manchmal ganz leicht spürbarer unterschwelliger Aggression in "The Insult" einen palästinensischen Flüchtling in Libanon spielt, der mit einem Christen aneinandergerät - den Wettkampf um die Opferrolle tragen die beiden letztlich vor Gericht aus. Und sie entschied sich für Charlotte Rampling, die in vielen Filmen die beste Schauspielerin war und es vielleicht auch noch eine Weile immer wieder sein wird, auch wenn "Hannah" - der Film des italienischen Regisseurs Andrea Pallaoro, der auf den Festspielen in Venedig gezeigt wurde - nicht ihr bester Film ist. Dabei wurde der Film offenbar dazu geschaffen, ihr den besten aller möglichen Auftritte zu ermöglichen.

Erzählt wird eine Geschichte vom Ende aller Dinge, wie es sich in offenbar bürgerlichen Verhältnissen in einer belgischen Stadt zuträgt: Eine Familie ist auseinandergebrochen, nach einem unerklärt bleibenden Verbrechen, in dessen Folge der Großvater (André Wilms) ins Gefängnis gehen muss. Zurück bleibt seine Gattin, die Mutter, die Großmutter - eben "Hannah". Der Film besteht darin, dass er Charlotte Rampling zusieht, wie sie Hannah ist: mit den scharfen Falten in den Mundwinkeln, in denen manchmal, unerwartet, ein Lächeln aufzieht, in den Lidern, die auch über die geöffneten Augen fallen, mit hängenden Schultern, in denen sich die Ergebenheit ins Schicksal darstellt. In einer Szene des Films fährt Hannah ans Meer, weil dort ein Wal angespült wurde, der jetzt sterbend oder sogar schon tot auf dem Strand liegt. Selbstverständlich ist dieses Tier eine Metapher - für Hannah, für das Kino? Man weiß es nicht, und man möchte es auch nicht wissen. Denn gute Filme gab es auf diesem Festival überraschend viele.

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Quelle:
SZ vom 11.09.2017
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