Süddeutsche Zeitung

Kino-Jubiläum:Anarchie ist Ordnung

Wie Roland Klick zum Außenseiter und zur Legende des deutschen Kinos wurde, immer gegen den Geist der Zeit - eine Begegnung in Hamburg zum achtzigsten Geburtstag.

Von Juliane Liebert

Roland Klick wohnt in einem Hochhaus am Hamburger Hafen. Er steht nie vor Mittag auf und geht nicht vor drei Uhr nachts schlafen, sagt er. Am liebsten sitzt er auf seinem Balkon, raucht und sieht die Schiffe vorbeiziehen.

Es ist nicht ganz leicht, ihn zu treffen. Kann sein, dass der Roland kommt, erklärt Frieder Schlaich von der Filmgalerie 451, der sich seit Jahren um Klicks Werk verdient gemacht hat, ein paar Tage vor dem Interview am Telefon. Kann aber auch sein, dass nicht. Dann rufst du mich an.

Also sitzt man da so am Hafen, zum Schellfischposten, 35 Grad, bis auf ein paar Touristen haben sich alle verkrochen. Und sorgt sich, den Klick zu verpassen, falls er denn kommt. In der Hitze sehen von Weitem alle Männer über fünfzig aus, als könnten sie potenziell Roland Klick sein. Als er dann auftaucht — ein großer, dünner Mann mit weißem Haar in brauner Lederjacke - weiß man, dass man ihn nicht hätte übersehen können. Geschweige denn verwechseln.

In der ersten Szene seines Films "Supermarkt" von 1974 wäscht sich ein junger Mann, Willi, in einem dunklen Hamburger Café das Gesicht, streicht sich die Haare zurück, steckt die Seife ein. Er schreitet langsam auf die mit ihm rückwärts tastende Kamera zu. Geht in der Schankraum, schaut, ob der Wirt schaut, trinkt den Rest eines fremden Kaffees, isst eine Handvoll Würfelzucker, kippt, nach einem weiteren Blick, das Trinkgeld von einem Teller in seine linke Hand. Klopft im Gehen zweimal auf die Jukebox.

Draußen auf der Straße rennt eine Horde Kinder auf ihn zu, sie rempeln ihn an, das Kleingeld fällt ihm aus der Hand. Dutzende Kinderhände greifen nach seiner Beute, bis er sie vertreibt. Eines der Kinder dreht sich im Wegrennen noch mal um, als wollte es sehen, was das für ein Kerl ist, dieser Bursche in der braunen Jacke. Der ordnet wieder sein Haar und latscht in die Stadt. Aus einer Mülltonne dringt Dampf.

Der Dampf wurde Klick damals vorgeworfen, der Klick sei zu prätentiös, hieß es, der schmeißt die Nebelmaschine in Mülltonnen, damit die dampfen. Aber er wollte keinen Film erzählen, der im realen Hamburg spielt. Sondern einfach in einer großen Stadt, mit ihren Möglichkeiten und Gefahren. Das ist nicht Hamburg, das ist das "Supermarkt"-Hamburg.

Die braune Lederjacke, die der heutige Klick im wirklichen Hamburg trägt, trotz der Temperaturen, hat er jetzt ausgezogen und raucht.

In seinen nur sieben Filmen hat Roland Klick, der am Donnerstag achtzig Jahre alt wird, sein ganz eigenes Kino entworfen. Eine Art zu filmen, die quer zu allem steht, was üblicherweise mit deutscher Filmgeschichte assoziiert wird. Man merkt Klicks Filmen an, dass sie in wesentlichen Teilen gegen den Zeitgeist entstanden sind. Ihr Entstehen war nicht nur finanziell meistens ein Schwimmen im Ungewissen, sondern auch ästhetisch.

Roland Klick will den Dingen, den Menschen, gerecht werden. Seine Kamera soll sie liebend anschauen

Roland Klick ist in einer Kleinstadt in Franken aufgewachsen. Eine Kindheit voller intensiver Sinneseindrücke in der Natur. Der Vater Arzt, aber selbst aus kleinen Verhältnissen stammend. Eine der steif bürgerlichen Familien der Fünfzigerjahre, unter deren Oberfläche es gärte. Der Sohn sollte was Ordentliches lernen. Zum Studium ging er nach München, zum Film kam er aber durch die praktische Arbeit in der Szene. Seine Filmschule sei Antonionis "La Notte" gewesen, sagt er. Der genaue Blick; Bilder, hoch konzentriert, die von der Welt erzählen, die sie zeigen, sie aber niemals erklären. Ein Kino, in dem die Dinge zu sich selbst finden.

Klicks Kino wurzelt im Realismus, hat aber etwas ganz anderes im Sinn als Verismus. Sozialkritik interessiert ihn nicht. Sein Begriff der Wahrheit ist umfassender. Er will den Dingen, den Menschen gerecht werden. Seine Kamera soll sie in jedem Moment liebend anschauen.

Mit dieser Haltung eckte er in der stark politisierten Zeit des Neuen Deutschen Films an - ohne jemals eine Provokation beabsichtigt zu haben. Fast alle seine Figuren sind Einzelkämpfer, fast alle seine Filme sind gegen gewaltige äußere Widerstände entstanden: "Jeder Film. Jeder Film." Er sagt: "Sie waren immer unterfinanziert, lebensgefährlich, na ja. Jedes Leben ist eine Heldenreise, und ich hab sie angetreten. Es gibt auch Leute, die sie nicht antreten. Die verkümmern. Es gibt Gefahren. Aber trotzdem bin ich froh, dass ich sie angetreten habe." Er lacht.

Wenn er lebensgefährlich sagt, ist das kaum Übertreibung: Er drehte "Deadlock" in der Wüste zwischen Israel und Palästina, kurz nach dem Sechstagekrieg: "In den Bergen lagen die Kanonenrohre." Er drehte "Supermarkt", wo einer in der Großstadt aus Eigensinn zum Verbrecher wird, basierend auf der Geschichte eines jungen Mannes, den er selbst aufgenommen hatte, als der vor seiner Tür stand. Er drehte "White Star" mit einem permanent zugekoksten Dennis Hopper, der es während der Dreharbeiten schaffte, Klick, sich selbst und seiner Frau etwas zu brechen. "Den Fuß, die Hand und noch irgendwas. Am Ende musste er in einige Szenen reingetragen werden. Weil er entweder zu drauf oder verletzt war."

Es war oft knapp. Diese Spannung spürt man auch in den fertigen Filmen: Klicks Wahrheitssuche und seinen unbedingten Willen, sich auf sein Sujet einzulassen. Seine Figuren sind so widersprüchlich wie wirkliche Menschen, sie sind nie nur eines, nie nur Mörder, sondern auch Kind, nie nur Verbrecher, sondern auch Liebende.

Als Klick 1971 nach Cannes eingeladen wurde, ging die deutsche Filmszene gegen ihn vor

Gefragt, warum, sagt er: "Weil ich selber so bin. Ich bin tausend Figuren. Ich bin gerne Vater, und dann hab ich die Schnauze voll davon, Vater zu sein. Meine Frau ist gestorben nach der Geburt meines Sohnes. Dann war ich Vater, und das war sehr schön, aber auf der anderen Seite schrecklich, weil ich zwischendurch Filme machen wollte. Ich bin ein Held und wage Dinge, und am nächsten Tag hab ich wieder Schiss. Dann bin ich ein Feigling. Ein Frauenheld. Keusch."

Als "Deadlock" 1971 nach Cannes eingeladen wurde, ging die Export-Union des deutschen Films per Petition gegen die Einladung vor - der Film sei ein Zerrbild davon, was in Deutschland gerade an Entwicklungen stattfinde. Klick saß schon im Flugzeug, als er ankam, lief der Film nicht mehr im Wettbewerb. Das vom Verleih organisierte Büffet blieb menschenleer.

Trotzdem wurde "Deadlock" ein internationaler Erfolg, bescherte ihm Fans wie Jodorowsky, Tarantino und Spielberg. Trotzdem haben Klicks Filme fünf deutsche Filmpreise gewonnen.

Sieht man "Deadlock" heute, wirkt der Film ganz anders, weil Hippies, Krautrock, Italowestern Ikonen geworden sind. Damals waren sie lebendige Kultur. Die anarchische Energie in dem Film wird heute überlagert von allerlei Projektionen. "Supermarkt" steht noch immer im scharfen Kontrast zum deutschen Sozialkino. Klick wollte ein Kino zu schaffen, dass populär ist, weil es den Menschen etwas angeht.

Bernd Eichinger feuerte ihn von "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo", weil Klick mit den wirklichen Kindern von der Kurfürstenstraße drehen wollte. Anlässlich seines Geburtstags stellt das Wolf Kino in Berlin die während der Castings entstanden Polaroids aus. Jedes Polaroid zeigt eines dieser Kinder, dazu sind kurze Fakten notiert: "Heidi Bartel, 18 J., von der Schule geflogen wegen Heroin-Verdacht." Im türkisen Pullover, mit in die Seiten gestützten Händen. Ein namenloses Mädchen im weißen Pelz, "Kess, lebendig, weiß, was sie will, niedlich, macht Eindruck R."

Wenn man einen Film über Junkies macht, schulde man es ihnen, sie ernstzunehmen und ihnen das Kino "zurückzugeben", argumentiert er. Ein interessanter Punkt in Zeiten der Debatten um kulturelle Aneignung: Nicht nur, weil Klick seinen Ansatz genau durchdacht und so konsequent wie möglich verfolgt zu haben scheint. "Anarchie ist Ordnung", lautet Klicks wichtigster Leitsatz, er reflektiert in "Supermarkt" sogar das Problem innerhalb der Story: Michael Degens Figur scheitert an ihrem Willen zur guten Tat, der Outlaw lässt sich nicht einhegen. Diese Anarchie durchdringt die Form - also in Klicks Sinn: schafft die Ordnung des Films.

Für ihn ist der Dschungel das Gegenbeispiel zur Monokultur

"Die Dinge sind in Ordnung. Und wenn der Mensch da eine Ordnung hineinbringt, bringt er die natürliche Ordnung durcheinander," sagt Klick "Das sehen wir an der Natur. Die Anarchie ist der Urwald, und der ist in Ordnung. Wenn man Wege baut und Kanäle zieht, ist die Ordnung dahin. Ich sage ja immer: Der Mensch trägt die Ordnung in sich. Aber er macht sie nicht immer. Er bringt sie auch nicht in die Welt, sondern er schafft eine Scheinordnung. Die sagt: Im Wald begradige ich die Wege. Da sind keine begradigten Wege im natürlichen Wald."

Für ihn ist der Dschungel das Gegenbeispiel zur nur scheinbar ordentlichen landwirtschaftlichen Monokultur. Die eigentliche Ordnung ergibt sich aus der Dynamik, die nicht auf Herrschaft gründet. Das mag eine Utopie sein, aber es ist vielleicht die einzige Utopie, die nicht zugleich unheimlich wirkt - in Träumen von einer besseren Welt steckt so oft der Keim des Totalitären. Aber bei Klick wird sie konkret, und sie lebt nur, wenn immer wieder erspürt wird, wie sich die Außenwelt, das Fremde, Andere, scheinbar Unüberschaubare verhält. Deswegen muss sie sich permanent selbst korrigieren. Für moralische Überheblichkeit und die brutale Selbstgefälligkeit des Weltretters ist da kein Platz.

Klick schreibt derzeit an seiner Filmtheorie, mal kurze Aufsätze, mal Notizen. "In meiner Seele bin ich stinkefaul. Am liebsten möchte ich nur auf dem Balkon sitzen und die Schiffe sehen. Ich bin gern faul." Am liebsten mag er Segelschiffe. "Ich bin mal auf dem Segelschiff mitgefahren. Der Gloria." Er singt das Wort fast, dehnt das O. "Das hab ich im Hafen liegen sehen, in Südamerika. Und hab den Kapitän gefragt, und er meinte, kommen Se mit. Und da bin ich mitgefahren. Oben im Mast sitzen, das war sehr schön. Irgendwann kam die Gloria wieder nach Hamburg, der Kapitän, der kannte mich noch. Die Mannschaft war ausgetauscht."

Die Angst vor Mehrdeutigkeit ist im deutschen Film heute größer denn je. Formale Wagnisse sind okay, solange sie eine politische Moral bieten, aber genau die hat Klick immer verweigert. Man hat nicht den Eindruck, dass Filmförderung in Deutschland vom Vertrauen in den Film geprägt ist. Sondern eher von der Angst, er könnte ohne elterliche Fürsorge eingehen. Klick hat oft sein eigenes Geld in die Hand genommen, was man vermutlich heute noch genauso machen muss, weil jemand wie er heute auch wieder durchs Förderungsraster fallen würde.

Roland Klick kann es inzwischen egal sein, denn er hat die Schiffe. Und die Schiffe haben es gut, so einen Beobachter zu haben. Für all jene, die in seinem Sinne ihre eigene Heldenreise antreten wollen, ist es nicht egal.

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Quelle:
SZ vom 04.07.2019
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