Ruhe Bitte!
"A Quiet Place"
Spätvorstellung im Multiplex. Es kommt ein Gruselfilm. Die Lautstärke im Publikum liegt zwischen Schulausflug und Großraumdisco. Auf der Leinwand kämpft eine Familie gegen Fledermausmonster, die nur nach ihrem Gehör jagen. Beste Verteidigung: Klappe halten. Das ist so leise und so gruselig, dass bald auch der letzte Popcornknusperer verstummt. Stille Einigkeit bei Indiefilm und Mainstream-Publikum. Lust: "In the Middle of the River" von Damian John Harper Frust: "Solo - A Star Wars Story" von Ron Howard
Neuer Mut
"Die Verlegerin"
Regisseur Steven Spielberg erzählt in "The Post / Die Verlegerin", wie die US-Zeitung Washington Post durch die Veröffentlichung der Pentagon-Papiere im Jahr 1971 zu einer der wichtigsten amerikanischen Tageszeitungen geworden ist; und wie sich dabei die anfangs zögerliche Verleger-Witwe Katherine Graham (gespielt von Oscarpreisträgerin Meryl Streep) in eine knallharte Zeitungsfrau verwandelt, weil sie es schließlich schafft, das Geschick der gesamten Nation über ihre eigene Angst zu stellen. Und dann sieht man sie in einem wunderbar erfundenen Filmmoment voller Pathos: Da tritt sie, nach ihrem Sieg vor dem Obersten Gerichtshof, hinaus in eine Gruppe von Demonstranten - allesamt junge Frauen, die aufsehen zu ihr, ihrer neu entdeckten Heldin. Lust: "The Shape of Water" von Guillermo del Toro Frust: "Avengers: Infinity War" von Anthony und Joe Russo
Sprachmächtig
"The Ballad of Buster Scruggs"
Ein junger Mann ohne Arme und Beine, festlich gekleidet, die Wangen bleich geschminkt mit etwas Rouge. Er blickt theatralisch gen Himmel, woher nun die Kraft großer Dichtkunst in ihn herabfährt, und beginnt im schönsten Bühnenenglisch zu deklamieren: "Ein Wandrer kam aus einem alten Land ..." Dieses Geschöpf aus der Fantasie der Coen-Brüder zieht mit seinem Planwagen-Impresario durch die Siedlungen des alten Westens, ganz Stimme, Orator, Rhetor, Botschafter der Besserung und Erhebung durch die Kunst. Dennoch - oder gerade deshalb? - wird sein Ende so grausam und traurig sein, dass man es nicht mehr vergisst. Lust: "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" von Martin McDonagh Frust: "Papst Franziskus" von W. Wenders
Dammbruch
"The Shape of Water"
Sex mit einem Fischmann - wie könnte das gehen? Bett, Wohnzimmerteppich oder Küchentisch scheiden aus. Bleibt das Bad. Elisa verriegelt die Tür und dreht alle Wasserhähne auf. Als sie ihren Bademantel öffnet und die Kreatur, einen bräunlich schuppigen, bläulich schimmernden Flussgottfischmann, berührt, ist das Wasser schon über knöchelhoch gestiegen. Und es schwillt weiter, tropft hinunter in ein Zwischengeschoss und in den Kinosaal, der unter Elisas Wohnung liegt. Draußen stürzt Regen herab. Alle fließt. Alle Dämme scheinen gebrochen, als sich Fischmann und Menschenfrau in der Unterwasserlandschaft des Badezimmers endlich schwebend in den Armen liegen. Lust: "303" von Hans Weingartner Frust: "Wonder Wheel" von Woody Allen
Abschiedslied
"Lucky"
Liebevolle Hommage und wehmütiger Abschied von einem der ganz großen Kleinen: Mehr als 200 Mal hat Harry Dean Stanton die Textur seiner Filme als Nebendarsteller bereichert. Ganz am Ende seines Lebens erweisen einige Kollegen ihm die Ehre, mit einem Liebesbrief, der seine Essenz einfängt, als stoischer Loner im Nirgendwo zwischen Sträuchern und Kakteen, die genauso dürr und zäh sind wie er. Dann stimmt er in diesem Film von John Carroll Lynch auf einem mexikanischen Kindergeburtstag spontan ein Mariachi-Liedchen an, die Band groovt sich ein, die Gäste singen mit, und für einen herzerwärmenden Moment geht dieser sympathisch störrische Eigenbrötler im Verbund einer fröhlichen Großfamilie auf. Lust: "Crazy Rich" von Jon M. Chu Frust: "Book Club" von Bill Holderman
Ausgebüxt
"The Florida Project"
100 Kugeln Gratiseis für die zwei größten kleinen Stars! Moonee (Brooklynn Prince) ist sechs und tapfer wie eine Große. Das Jugendamt will sie mitnehmen, doch der kleine Strolch büxt aus. Vor der Tür ihrer besten Freundin Jancey (Valeria Cotto) ein herzergreifender Ausbruch: Die Tränen kullern, das Heulschluchzen ist echt. Jancey atmet durch, greift ihre Hand. Dann setzt Musik ein, die zwei Mädchen rennen los. Ins benachbarte Disney-World. Um sich in den Träumen der anderen zu verlieren. Lust: "303" von Hans Weingartner Frust: "1000 Arten Regen zu beschreiben" von Isabel Prahl
Alter Schatz
"Spell Reel"
Archivmaterial aus dem Unabhängigkeitskrieg des westafrikanischen Staats Guinea-Bissau, der sich zwischen 1963 und 1974 mit Waffengewalt von der portugiesischen Kolonialmacht befreite. Die einzigen Bilder aus jener Zeit sind ein Schatz. Die zwei Dokumentarfilmer, die diese Aufnahmen damals gedreht haben, erzählen extrem gelassen vom Kampf mit Kameras und Gewehren. Dann sieht man auch Aufnahmen aus ihrem Filmstudium damals und versteht die erstaunliche Abwesenheit von Wichtigtuerei oder Eitelkeit: "Hier hat man uns mit den Bauern auf die Felder geschickt. Damit wir Demut vor der Arbeit lernen." Lust: "SPK Komplex" von Gerd Kroske Frust: "Call Me By Your Name" von Luca Guadagnino
Cheers
"Johnny English 3"
Der größte Slapstick entsteht natürlich immer dann, wenn Männer sich vor Frauen aufplustern wollen. Geheimagent Johnny English hat sich mit einer verführerischen Spionin an der schicken Hotelbar verabredet. Der Patriotismus diktiert die Drinkauswahl, die Russin ordert deshalb einen Moscow Mule. Da muss der Brite gleichziehen - und bestellt sich einen London Lemming. Was das denn bitte sein soll, fragt der Bartender am Tresen erstaunt. Nun, sagt English, im Flirtmodus und mit unbewegter Miene, das geht selbstverständlich folgendermaßen: Gin, Wodka, äh, Armagnac, Sherry ... und ein kleines bisschen Parmesan. Cheers! Lust: "Astrid" von Pernille F. Christensen Frust: "Solo - A Star Wars Story" von Ron Howard
Traumpaar
"Love, Cecil"
Cecil Beaton, Artdesigner, Kriegs- und Starfotograf, Dandy, Homosexualist, hat Queen Elizabeth bei der Krönung porträtiert und Audrey Hepburn als "My Fair Lady" ausgestattet, aber, so zeigt es "Love Cecil", von Lisa Immordino Vreeland, sein Traum war die unnahbare Greta Garbo. Die war erst nach sehr langem Zögern bereit, so gewaltig war ihre scheue Ehrfurcht: "If only you weren't such a great photographer ..." Beaton, als er das erzählt, macht ihren schwedisch rauchigen Akzent nach, und die beiden produzieren eine Reihe Bilder von verführerischer Rätselhaftigkeit. Wahre Liebe, unfassliches Begehren. Wie das Subjekt und das Objekt, im Kino, eins werden dürfen. Lust: "Seestück" von Volker Koepp Frust: "All the Money in the World" von Ridley Scott
Trost vom Vater
"Call Me By Your Name"
Was sagt man, wenn der 17-jährige Sohn neben einem auf dem Samtsofa sitzt und ihm der erste große Liebesschmerz leise, aber heftig aus den Augen quillt? Michael Stuhlbarg, der den Professorenvater des jungen Elio spielt, weiß es. Sanft setzt er in diesem Drama des italienischen Regisseurs Luca Guadagnino zu einem schmerzhaft offenen Monolog über frühe Liebe an, der zum Schönsten zählt, was Filmeltern je zu ihren Filmkindern gesagt haben. Er spricht über die ersten Wunden des Verlassenwerdens, die tiefer sind als jene späteren, gegen die man sich irgendwann zu wappnen lernt. Jetzt gerade fühle er, Elio, zwar nichts als Schmerz, aber, so der geniale Vater: "Nichts zu fühlen, was für eine Verschwendung!" Lust: "Lady Bird" von Greta Gerwig Frust: "How to Party With Mom" von Ben Falcone
Schöne Geste
"Three Billboards Outside Ebbing, Missouri"
Die rechtsradikale Dumpfbacke liegt mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus und weint. "I'm sorry, Welby", sagt er. Welby versteht aber nicht, er erkennt den in Mullbinden eingewickelten Mann neben ihm nicht. Da gesteht dieser, ihn aus dem Fenster geschmissen zu haben. Erst dreht sich Welby wütend weg, dann stellt er dem Aggressor ein Glas Orangensaft hin und dreht den Strohhalm in seine Richtung. Eine versöhnliche Geste in Zeiten, in denen sich die Menschen immer unversöhnlicher geben. Lust: "Isle of Dogs" von Wes Anderson Frust: "Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot" von Philip Gröning
Im Walzertakt
"In den Gängen"
Nachtschicht im Großmarkt. Irgendwo in der ostdeutschen Peripherie. Draußen das Rauschen einer Autobahn. Im Bauch des Marktes ein Reich aus Europaletten und langen Gängen. Dann das mechanische Surren eines Gabelstaplers. Zu den Klängen von Johann Strauß' Donauwalzer schwebt er ins Bild. Wie eine Tänzerin. Zieht seine Kreise durchs Warenlabyrinth. Mit diesem Weltaufgangszauber in neonbeschienener Konsumtristesse beginnt Thomas Stubers Film. Unter seinem zärtlichen Blick wird dieser Nicht-Ort für zwei Stunden zum Nabelpunkt der Welt - und zur Theaterbühne für eine hinreißende Liebesgeschichte. Lust: "Roma" von Alfonso Cuarón Frust: "Werk ohne Autor" von Florian Henckel von Donnersmarck
Unter Wilden
"Black Panther"
CIA-Agent Ross (Martin Freeman), eine der wenigen weißen Figuren in "Black Panther" von Regisseur Ryan Coogler, steht vor M'Baku, einem mächtigen, angsteinflößenden Stammesführer, um ihn um seine Hilfe zu bitten. Aber der schneidet ihm das Wort ab. "Wenn du noch ein Wort sagst, verfüttere ich dich an meine Kinder!" Pause. Schwarze Menschenfresser, wirklich? In einem Blockbuster, der nicht nur dafür, aber auch dafür gelobt wird, den ersten schwarzen Superhelden zu feiern? Aber da ist der Zuschauer schon in die Falle getappt: "War nur ein Witz", sagt M'Baku. "Wir sind Vegetarier." Lust: "I, Tonya" von Craig Gillespie Frust: "Werk ohne Autor" von Florian Henckel von Donnersmarck
Hinsehen!
"Werk ohne Autor"
Ein NS-Arzt wischt sich die Träne der jungen Frau, die er gerade trotz ihres Flehens zur Zwangssterilisation und zum Tod verurteilt hat, von seinem Stiefel. Ein Moment im dreistündigen Monumental-Künstlerdrama von Florian Henckel von Donnersmarck, in dem sich der zum Haareraufen schrecklich faszinierende Widerspruch konzentriert, dass ein Film sich ästhetisch in Umnachtung verlieren und dabei trotzdem etwas Relevantes über Kunst aussagen kann. Nämlich: Man muss in der Tat immer hinsehen. Aber nicht so. Lust: "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" von Martin McDonagh Frust: "The Happy Prince" von Rupert Everett
Eingehegt
"The House That Jack Built"
Die Kamera geht nach oben, macht aus der Einstellung ein Gemälde. Tannenäste bilden den Rahmen. In ihm sind die geschossenen Wesen nach ihrer Gattung angeordnet. Oben die Tiere, unten eine Mutter und ihre zwei Kinder. Am Rande steht der Jäger Jack und betrachtet sein "Meisterwerk". Und Lars von Trier zeigt, dass Kunst die Welt etwas gesünder machen kann, wenn sie es schafft, die krankhafteste Gewalt formal einzuhegen. Lust: "Der seidene Faden" von Paul Thomas Anderson Frust: "Climax" von Gaspar Noé
Aushub
"Gundermann"
Die Schaufelräder graben sich durch ein geteiltes Land. Nach der Schicht steht Gundermann, der "singende Baggerfahrer" der Deutschen Demokratischen Republik, ein Stasi-Spitzel, vor seinen Kollegen auf der Bühne. Der Aushub der Geschichte dieses Landes hat damals noch nicht begonnen, heute ist er noch nicht beendet, aber Gundermann singt in Andreas Dresens Film schon tieftraurig von dem Tag, an dem sein Bagger "in der Heide stirbt", "und das Erdbeben hört endlich auf". Lust: "Juliet, Naked" von Jesse Peretz Frust: "A Wrinkle in Time - Das Zeiträtsel" von Ava DuVernay
Ballsicher
"Transit"
Fußballszenen im Kino zeigen meist sinnloses Gebolze. Nicht so in Christian Petzolds Drama "Transit", frei nach dem Roman von Anna Seghers, wenn die Hauptfigur Georg mit einem Jungen Elfmeterschießen übt und dabei sein Vertrauen gewinnt. Hier stimmt - fußballerisch und dramatisch - jeder Ballkontakt, und die Präzision des Spiels formt einen Kontrapunkt des Glücks inmitten einer gespenstischen Welt, die ansonsten nur den Verrat von Vertrauen, Freundschaft und Liebe kennt. Lust: "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" von von Martin McDonagh Frust: "Licht" von Barbara Albert