Süddeutsche Zeitung

Abtreibungsdrama im Kino:"Die schmerzhaften Momente, über die man nicht spricht"

Die US-amerikanische Regisseurin Eliza Hittman hat mit "Niemals selten manchmal immer" eine sehr unsentimentale Coming-of-Age-Geschichte gedreht. Im Interview erzählt sie, wie ihr Film auf einem Isar-Floß seinen Anfang nahm.

Interview von Jan Jekal

In ihrem dritten Film "Niemals Selten Manchmal Immer" erzählt die amerikanische Regisseurin Eliza Hittman die Geschichte der 17-jährigen Autumn, die mit ihrer Cousine Skylar aus dem konservativen Pennsylvania nach New York fährt, um dort einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Für ihr neorealistisches Drama wurde Hittman von der internationalen Kritik gefeiert und auf der diesjährigen Berlinale mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

In Ihren Filmen nähern Sie sich den Themen Identität und Sexualität über jugendliche Figuren. Was macht die Teenager-Perspektive für Sie so reizvoll?

Die Teenager-Jahre sind eine so verwundbare Zeit, in der du Erfahrungen machst, die dich für den Rest deines Lebens prägen. Meine Filme sind aber keine klassischen Coming-of-Age-Geschichten, sie fordern diese Form eher heraus. Denn sentimental sind sie gar nicht. Mich interessieren die Aspekte des Heranwachsens, die intim und privat sind, die schmerzhaften Momente, über die man nicht spricht, und die ein Publikum dann besonders eng mit den Figuren verbinden. Autumn wird später niemandem von ihrem Ausflug nach New York erzählen, da bin ich mir sicher.

Autumn lebt in einer stukturschwachen Gegend in Pennsylvania, in der Ihr Film auch beginnt. Haben Sie als lebenslange New Yorkerin viel Recherche betreiben müssen, um ein Gefühl für diesen Ort zu bekommen?

Man fährt drei Stunden von New York dorthin, reist praktisch in der Zeit zurück und findet sich plötzlich in den Geisterstädten der Kohleindustrie wieder. Dieser verlassene Teil von Pennsylvania hat mich fasziniert. Die ganzen kleinen Städte, die aus dem Boden gestampft wurden, um die Industrie zu unterstützen, und in denen nach deren Niedergang nun eine Menge Leute gestrandet sind. Der Bus, den Autumn im Film nach New York nimmt, der fährt dort wirklich. Ansonsten gibt es keine öffentlichen Verkehrsmittel. Ich bin in die Gegend gereist und habe mich gefragt: Wäre ich in Autumns Situation, welche Optionen hätte ich dann? Also habe ich die kleinen Schwangerschaftszentren besucht und den religiösen Beratungsdienst in Anspruch genommen. Mir war es wichtig, ein akkurates Bild zu zeichnen und die evangelikalen Frauen, die dort arbeiten, nicht zu karikieren.

In einer besonders emotionalen Szene wird Autumn zur Vorbereitung der Abtreibung von einer Mitarbeiterin der Organisation Planned Parenthood zu ihren Lebensumständen befragt. Dort waren Sie sicherlich auch?

Ja, ich habe die Ärztinnen und Sozialarbeiter dort gefragt, wie sie mit einer Minderjährigen umgehen würden, was ihre Bedenken wären, was sie von ihr wissen wollen würden. Weil ich aber natürlich keinen Dokumentarfilm gemacht habe, musste ich letztlich die Balance finden zwischen meinen Recherchen und der Geschichte, die ich erzählen wollte.

Dass Sie so realistisch das Schicksal einer 17-Jährigen zeigen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lässt, macht Ihren Film natürlich kontrovers. Haben Sie die Befürchtung, ein konservatives Publikum zu verprellen, das Sie mit Ihrer humanistischen Message eigentlich erreichen wollen?

Ach, ich denke sowieso nicht, dass Abtreibungsgegner sich meinen Film anschauen würden. Höchstens lesen sie einen kurzen Werbetext und protestieren dann gegen ihn.

Die Atmosphäre Ihres Films ist sehr beklemmend. Autumn und Skylar werden den gesamten Film über von Männern begafft oder überwacht und auch bedroht.

Es gibt diesen Moment als junge Frau, in dem du zum ersten Mal spürst, wie du von Männern angesehen wirst, wie du objektifiziert wirst. Je älter du wirst, desto heftiger werden diese Erfahrungen, und eine gewisse Grundanspannung stellt sich ein. Ich wollte das Publikum in die Lage der beiden jungen Frauen versetzen. Man soll fühlen, welche emotionalen Folgen von diesen ganzen kleinen Aggressionen ausgehen. Selbst, wenn es sich nur um einen jungen Mann handelt, der ihren Arm in der U-Bahn berührt. Das ist aufdringlich und verletzt ihre Privatsphäre. Für mich gehört das zu dem Unbehagen, das damit einhergeht, eine Frau zu sein.

Ihre beiden Hauptdarstellerinnen haben einen mühelosen, natürlichen Umgang miteinander, sind als Cousinen vollkommen glaubhaft. Wie haben Sie diese besondere Verbindung zwischen den beiden erschaffen?

Wir drei hatten nur anderthalb Tage zusammen, bevor die Dreharbeiten begonnen haben, es gab also keine richtige Möglichkeit zu proben. Über die Figuren haben wir in dieser kurzen Vorbereitungszeit kaum gesprochen, es ging mir vor allem darum, eine echte Vertrautheit zwischen den beiden aufzubauen, sie sollten als Menschen harmonieren. Ich habe sie sich zum Beispiel gegenseitig schminken lassen, Sidney [Flanigan, die Darstellerin der Autumn] hat uns ein Lied gesungen und sich auf der Gitarre begleitet. Ich habe den beiden auch jeweils ein Notizbuch in die Hand gedrückt, in denen ein paar Vorschläge von mir standen, worüber sie schreiben könnten: Kindheitserinnerungen, Urlaubsgeschichten, so etwas. Auch wie das letzte Treffen mit ihren Vätern war, denn ich wusste, dass beide fragile Beziehungen zu ihren Vätern haben. Dann habe ich sie allein gelassen und sie die Bücher tauschen lassen und mir später auch nicht angeschaut, was sie hineingeschrieben haben.

Abschließend eine Frage zur Industrie. Ihre ersten beiden Filme waren kleine Low-Budget-Produktionen. "Niemals Selten Manchmal Immer" wurde nun von Adele Romanski produziert, die für Barry Jenkins' "Moonlight" mit dem Oscar für den Besten Film ausgezeichnet wurde. Haben Sie es als Herausforderung empfunden, nun einen deutlich größeren Film zu drehen?

Meinen ersten Film, "It Felt Like Love" habe ich für 25.000 Dollar gedreht, das ist gar nichts! "Beach Rats" war knapp unter einer Million, und "Niemals Selten Manchmal Immer" ist nochmal ein wenig teurer, aber gar nicht mal so viel. Aber sicher verspüre ich einen besonderen Druck, nicht nur, was das Thema angeht, sondern eben auch in finanzieller Hinsicht. Adele habe ich übrigens vor einigen Jahren auf dem Filmfest München kennengelernt. Wir haben da an einer Floßfahrt teilgenommen und Bier getrunken und sie hat mich gefragt, welchen Film ich gerne als nächstes drehen würde, und dann haben wir angefangen, über "Niemals Selten Manchmal Immer" zu sprechen. Am Anfang dieses Films stand also eine Floßfahrt in München!

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5050170
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/khil
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.