Kino:In einer anderen Dimension

Das Märchenhafte und Mythische ist Vergangenheit: Das Disney-Studio beendet die Ära des klassischen 2D-Zeichenfilms.

Fritz Göttler

Es scheint ein sanfter Tod gewesen zu sein, an diesem Freitag Anfang Mai, als Joe Grant starb, der letzte Zeichner aus dem klassischen Zirkel der Nine Old Men, der einst das schöpferische Potenzial der Disney-Zeichenfilmproduktion darstellte.

Grant hatte an den frühen Klassikern mitgearbeitet - die böse Königin hat er entworfen, im ersten Zeichenspielfilm, "Schneewittchen" von 1937, dann an "Pinocchio" und dem grandiosen Musikexperimentalfilm "Fantasia" mitgearbeitet, im Weltkrieg dann an den prononcierten Anti-Nazi-Stücken "Education For Death" und "Der Fuehrer's Face" -, aber auch an vielen großen Filmen der letzten Jahrzehnte, am "König der Löwen" oder am zweiten Fantasia-Projekt, "Fantasia/2000".

Am Zeichentisch hatte der Tod Joe Grant ereilt, am 6. Mai, im Alter von 96 Jahren.

Wenige Wochen später kam dann eine andere Todesnachricht aus dem Disney-Imperium, und die klang um einiges drastischer: In Kürze wird - nach Schließungen in Florida, Paris und Tokio - das DisneyToon in Sydney, die letzte Stätte, an der noch 2D-Filme gemacht wurden, dicht machen. Damit ist die Geschichte der zweidimensionalen Animation fürs erste abgeschlossen - die Zukunft gehört 3D, dem dreidimensionalen Zeichenfilm, das heißt dem Computer.

Wie jede Firmenabwicklung ist auch dies ein trostloser Prozess. Die schönen massiven, dennoch wunderbar verspielten Maschinen werden abgeholt und in einem Lagerhaus abgestellt, dutzendweise werden die Leute entlassen, und die noch bleiben dürfen werden in die üblichen Großraumzellen gesteckt, hinter monochrome Computer.

Schluss mit dem Chaos der abertausend Skizzen und mit dem unaufhörlichen Papierwirbel, der tolle Kreativität verhieß und einen Teamgeist, in dem es für alles besondere Kräfte gab, für Background und Bewegungen, für jede einzelne, individuelle Figur.

Todesstoß durch Pixar und Eisner

Der ungeliebte heutige Disney-Chef Michael Eisner gibt der traditionsreichen Kunst des 2D den Todesstoß. Das ist vorbei, erklärte er, und setzte für die Zukunft auf die Computerwunder aus dem Hause Pixar, mit dem Disney einen Verleihvertrag hatte und dessen Hit "Findet Nemo" mit 338,5 Millionen Dollar Einspiel den "König der Löwen" vom Spitzenplatz der Animationsfilme geschubst hatte.

Die letzten 2D-Filme des Disney-Studios, Nr. 43 und Nr. 44, konnten an der Kasse nicht überzeugen - das mythische Inuit-Initiationsstück "Brother Bear" und der Zeichentrick-Hillbilly "Home at the Range". Und im Jahr zuvor hatte es einen fürchterlichen Flop gegeben mit dem teuren und ambitionierten "Schatzplanet". Anfang 2004 wurde der Vertrag mit Pixar zwar vorerst gekündigt, aber Disney versucht sich inzwischen an eigenen 3D-Projekten, "Chicken Little" und "Rapunzel Unbraided".

In einer anderen Dimension

Dem guten alten 2D pappt seit langem das Etikett des Antiquierten, des Nostalgischen an - so wie man den alten Disney immer gern als Typus des amerikanischen Reaktionären gemalt hat. Aber die Sympathie für die klassischen Zeichenfilme geht über den Bonus, den man den zu kurz gekommenen, erfolglosen Underdogs a priori zubilligt, weit hinaus.

Der Perspektivenwechsel, der sich mit dem Absterben der alten und dem lautstarken Auftreten der neuen Technik abzeichnet, hat auch mit dem Wandel der amerikanischen Gesellschaft zu tun, und mit der Art, wie sie sich darstellt.

Ja, die neuen Zeichenfilme sind lauter und derber, drastischer und dreckiger, sarkastischer und zynischer - sie arbeiten den Verlust der Illusionen auf, den eine neue Generation mitmachen musste. Das Volk, das sich in "Findet Nemo" herumtreibt, gehört zu den unteren Schichten, und die Welt, in der sie leben, ist von der Verlotterung der Sitten und von der Umweltverschmutzung gleichermaßen gezeichnet: die australische Küste, Sydney natürlich!

Zeichentrick der Hip-Hop-Generation

Diese Filme liefern den Zeichentrick der Hip-Hop-Generation, während die klassischen Stücke ihren Ursprung in den Gemälden der amerikanischen Romantik nie verleugnen konnten, den klassischen Fabeln und Parabeln von der Geburt einer Nation. Das Handgemalte, sagen die jungen 2D-Künstler, ist weitaus organischer als jedes Computerkonstrukt - es ist in seiner Unvollkommenheit lebendiger als der Hyperrealismus, der aus dem Rechner kommt.

Das Märchenhafte und Mythische, das in der Zweidimensionalität dieser Bilder bewahrt wurde, ist in den Pixar-Geschichten suspendiert.

"Natur und Technik, Primitivität und Komfort", schrieb Walter Benjamin 1933 vom Dasein von Mickey Mouse, "sind hier vollkommen eins geworden und vor den Augen der Leute, die an den endlosen Komplikationen des Alltags müde geworden sind und denen der Zweck des Lebens nur als fernster Fluchtpunkt in einer Perspektive von Mitteln auftaucht, erscheint erlösend ein Dasein, das in jeder Wendung auf die einfachste und zugleich komfortabelste Art sich selbst genügt ..."

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