Süddeutsche Zeitung

Kino:Heiter bis weise

Ihr Überraschungserfolg "Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe" liegt bereits mehr als 20 Jahre zurück. Jetzt hat Dagmar Wagner den zauberhaften Dokumentarfilm "Ü 100" über hochbetagte Senioren gedreht

Von Sabine Reithmaier

Über 100 Jahre alt zu sein, sei doch kein Verdienst, sagt Hella Müting. "Man wartet nur ab". Auch Ruja Diebold findet das Theater um ihr Alter überzogen. "Ich spüre nicht, dass ich älter werde", sagt sie, ohne ihr Klavierspiel zu unterbrechen. Als Pianistin aber war die 102-Jährige bereit, in Dagmar Wagners neuem Dokumentarfilm "Ü 100" mitzuwirken. Jetzt lebt der ganze Film von ihren Klängen.

Acht hochbetagte Menschen hat Dagmar Wagner aufgesucht, teils in privaten Räumen, teils in Senioreneinrichtungen. Aus den Gesprächen über die Essenz eines mehr als 100-jährigen Lebens hat sie einen Film gemacht, der Kraft und Stärke atmet. Und dessen Witz die Angst vor dem eigenen Alter mindert. "Der Film trifft einen Nerv der Zeit", da ist sich Dagmar Wagner sicher. Wenn er ähnlich erfolgreich wird wie ihr Erstling vor 20 Jahren, dürfte es sich um einen neuen Kultfilm handeln.

1992/93 drehte sie "Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe", eigentlich als Abschlussarbeit an der Filmhochschule. In unspektakulären Bildern erzählte sie die Geschichte eines abgewirtschafteten Bauernhofs zwischen Eurasburg und Wolfratshausen. Die Sprengenöder Alm war einst ein stattlicher Hof mit Gästezimmern, Ausflugslokal und Sägewerk. Zu Drehbeginn war das Wirtshaus bereits verpachtet, die Münchner Schickeria hatte es für sich entdeckt. In den Pensionszimmern wohnten dagegen Asylbewerber. Für Kontinuität sorgte lediglich die gelassene Altbäuerin Sophie Geisberger, von der auch der titelgebende Spruch stammt.

Der Streifen wurde prompt mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet, lief monatelang in den Kinos, was damals bei Dokumentarfilmen noch völlig unüblich war. Er taucht auch heute noch regelmäßig auf, hat nichts von der Kraft eingebüßt. "Für mich ist das schön", sagt Wagner. Sie hatte ursprünglich keine Kinoversion geplant, der Film sollte in einer Kurzfassung im Bayerischen Fernsehen laufen. Auch bei "Ü 100" dachte die 57-jährige Dokumentarfilmerin anfangs nicht ans Kino. Doch die Kurzversion mit fünf Senioren kam unerwartet gut an. Nach längerem Zögern und auf Drängen ihres Dokumentarfilmkollegen Walter Steffen beschloss Dagmar Wagner, doch eine Kinoversion zu drehen. "Ich hatte das Gefühl, ich bin es meinen Gesprächspartnern schuldig."

Das Thema Älterwerden beschäftigt sie schon einige Jahre. Seit 2010 dreht sie nicht mehr nur Filme oder Fernsehbeiträge, sondern schreibt auch Privatbiografien, hilft Menschen, die sich den Wunsch nach einer eigenen Biografie in Buchform erfüllen wollen. Manchen reicht die Überarbeitung eigener Texte, andere lassen sich von Wagner interviewen und überlassen ihr das Schreiben. "Der Bedarf ist jedenfalls hoch", sagt Wagner. Mit einer Selbstverwirklichung als Schriftstellerin hat das nichts zu tun, Wagner sieht ihre Arbeit als reine Dienstleistung. Aber anscheinend macht sie auch das sehr gut. Bereits 2013 erhielt sie für eines der Bücher den 6. Deutschen Biografiepreis für Privatbiografie. Vermutlich gelingt es ihr hier ähnlich überzeugend wie in den Filmen, sich in andere Menschen einzufühlen, deren Sprachduktus zu treffen. "Es ist auf jeden Fall eine erfüllende Arbeit und oft sehr berührend", findet Wagner, wenn auch der Zeitaufwand enorm hoch sei.

Inzwischen ist sie eine gefragte Referentin zu Altersthemen, redet über Gedächtnis und Erinnerung oder stellt aktuelle Erkenntnisse der Gehirnforschung vor. "Wenn wir hierzulande über Alter sprechen, reden wir ja meist nur über die Defizite." Das findet sie unmöglich. "Auch die Angst vor Demenz ist unerträglich." Die Suche nach ersten Anzeichen, die Beobachtung naher Verwandter - "das sind jetzt schon zwei Generationen, die total angstbesetzt altern." Inzwischen gebe es bereits einen Forschungszweig, der sich mit der Angst vor Demenz befasst.

Die Pharmaindustrie hat die Angst längst als Geschäftszweig entdeckt; das zeige schon die permanente Werbung für Ginkgo-Präparate, die zwar die Durchblutung fördern, nicht aber die Gehirnleistung steigern. "Dafür fehlt jeglicher wissenschaftlicher Beleg." Gemindert würden der Abbau von Gehirn und Körper nur durch viel Bewegung und geistige Anstrengung. "Geschenkt wird einem nichts." Aber gegen all die Ängste hilft auch ihr Film mit Menschen, die in Würde und Einklang mit sich selbst altern. Sie machen keine Show daraus, reden offen über ihre Gebrechen, sind bereit zum Gehen. "Klar sind es positive Beispiele, aber es ist keine Schönfärberei", sagt Wagner.

Am Ende des Films jedenfalls liebt man jeden einzelnen der Hochbetagten, nicht zuletzt wegen ihrer bezaubernden Selbstironie. Die bettlägerige Theresia Steinberger hört viel zu schlecht, um Wagners Fragen zu verstehen, gibt aber trotzdem Antworten. "Ich denke mir halt einfach was aus", sagt sie dann und lacht absolut mitreißend. "Anfangs dachte ich, sie kann ich nicht filmen", erinnert sich Dagmar Wagner. "Ich wäre fast rückwärts wieder aus dem Zimmer raus." Theresia hatte sich in den Dämmerzustand zurückgezogen, in den sehr alte Menschen fallen, wenn sie nicht gefordert sind, aus dem sie aber auch wieder zurückkehren.

Inzwischen ist Theresia tot, genauso wie Ruja Diebold, Anna Pöller, Franz Xaver Schmid, Gerda Skowronek und Ernst Strunz. Die zarte Erna Rödling, leidenschaftlicher FC-Bayern-Fan, ist 107 alt und kann zur Filmpremiere nicht mehr kommen. Aber Hella Müting, inzwischen 104 Jahre alt, wird da sein. "Man bleibt immer ich", sagt sie irgendwann im Film. "Dass man sich alt oder jung fühlt, das ist eigentlich nicht." Und Ruja Diepold blickt auf die Frage, wie alt sie eigentlich sei, nur kurz vom Klavier auf und sagt, während sie schwungvoll weiterspielt: "Habe ich vergessen." Tatsächlich gibt es in dem Moment nichts, was unwichtiger wäre.

Ü 100; öffentliche Filmpremiere Mittwoch, 5. April, 20 Uhr, Rio-Filmpalast, Rosenheimer Straße 46

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SZ vom 05.04.2017
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