Die andere Seite von allem
Eine Tür in einem Apartment in Belgrad. Von ihr ausgehend erzählt Mila Turajlic die Geschichte ihrer Mutter Srbijanka, einer Professorin und politischen Aktivistin im Kampf gegen das Regime von Slobodan Miloševic. Bei der Enteignung durch die Kommunisten wurde die Wohnung geteilt, die Tür blieb siebzig Jahre verschlossen. Die persönlich gefärbte, klug ins Bild gesetzte Chronik jugoslawischer Geschichte lebt von ihrer starken Protagonistin und den Diskussionen zwischen Mutter und Tochter. Und am Ende wird die Tür aufgebrochen.
Assassination Nation
Datenleak verstört Kleinstadt - der erzkonservative Bürgermeister ist eigentlich schwul, der Schuldirektor könnte pädophil sein und jeder sieht die Nacktfotos der Schülerin Lily. Obwohl sie selbst Opfer der Hacks sind, geraten Lily und ihre Freundinnen ins Visier einer rein männlichen Bürgerwehr. Nur haben die Männer nicht damit gerechnet, dass sich die Mädchen auch bewaffnen können. Mit Splitscreens, Zitatgewittern und greller Optik beschwört Regisseur Sam Levinson sehr unterhaltsam den Instagram-Zeitgeist, bevor er den Film in der zweiten Hälfte in den Horror kippen lässt.
The Ballad of Buster Scruggs
Der Revolverheld, der am schnellsten zieht. Der Bandit mit der Schlinge um den Hals. Der Goldgräber, fernab der Zivilisation, der nur noch mit sich selbst spricht. Dazu ein Planwagen-Treck, ein Indianerüberfall, eine Postkutschenfahrt. Ein sechsteiliger Episodenfilm, in dem man die Lust der Coen-Brüder spürt, diese Western-Standards mit den Mitteln der Gegenwart noch einmal durchzuspielen. Schon rein visuell ist das genial. Den größten Spaß machen sie sich aber daraus, all jenen den Mittelfinger zu zeigen, die allzu eifrig nach dem Sinn des Ganzen fragen. Was Nuggets von tiefer philosophischer Wahrheit nicht ausschließt (auf Netflix).
An Elephant Sitting Still
In Manzhouli, einer Stadt im Norden Chinas, soll es einen Elefanten geben, der einfach nur dasitzt, selbst wenn er mit einem Stock provoziert oder mit Futter gelockt wird. Die Stadt mit ihrem in sich ruhenden, stoischen Elefanten wird zum Sehnsuchtsort für die Figuren des Films, die alle gute Gründe hätten, ebenfalls die Welt zu ignorieren. Das Debüt von Hu Bo zeigt das moderne China als verrottete Gesellschaft, voller Aggressionen, Arbeitslosigkeit und Armut - in unerbittlichen, dabei wunderbar poetischen Bildern.
Fantastische Tierwesen: Grindelwalds Verbrechen
Man merkt dem zweiten Teil ihres "Harry Potter"-Spinoffs an, dass J.K. Rowling immer noch in literarischer Breite fabulieren will. Um die herrlich detailreichen Erzählbögen und die schiere Pracht der digitalen Zauberflammen im Blick zu behalten, braucht es bei der Entwirrung der zahlreichen Nebenhandlungen mitunter schon die Besonnenheit der Hauptfigur Newt Scamander (Eddie Redmayne), der diesmal im mondänen Paris der Zwanziger mit seinem Koffer voller magischer Monster gegen die dunklen Mächte des Gellert Grindelwald (Johnny Depp) kämpft.
Juliet, Naked
Hochschullehrer Duncan hat einen Spleen. Und zwar den Rockmusiker Tucker Crowe, dessen erstes und einziges Album er für das beste aller Zeiten hält. Dieses exzessive Fandasein belastet die Beziehung zu seiner Freundin Annie - die durch einen Zufall eben jenen Exrockstar kennenlernt und eine Affäre mit ihm anfängt. Regisseur Jesse Peretz und Produzent Judd Apatow machen aus Nick Hornbys Romanvorlage eine fiese kleine Komödie über Liebe jenseits der "High Fidelity"- Romantik.
Der kleine Spirou
Spirou (Sacha Pinault) soll der Familientradition folgen und Page werden, doch den Zwölfjährigen treibt das Abenteuer. Seit 1987 erzählt eine Comic-Reihe die Vorgeschichte des franko-belgischen Helden in Pagenuniform, den Rob-Vel vor 80 Jahren erfunden hat. In seinem Realfilm verwechselt Nicolas Bary jedoch ein veraltetes Frauenbild mit Retrocharme. Wie um von der mageren Story abzulenken, hängt die Kamera am Dekolleté der Lehrerin. Allein die Weltreise, die Spirou mit Freunden inszeniert, macht etwas her.
Loro
Das Altern und die Macht sind die Lieblingsthemen von Paolo Sorrentino. Es war also wohl nur eine Frage der Zeit, bis er sich an einen Spielfilm über Silvio Berlusconi wagt. Dessen auf die Macht schöner Bilder gestützter Regierungsstil ist dabei inszenatorisches Prinzip. Nicht enden wollende Kaskaden halbnackter junger Frauen gleiten an der öligen Schminkemaske auf dem Gesicht von Toni Servillo ab. In Sorrentinos "La Grande Belezza" spielte er einen alternden Autor, der das Geheimnis der existenziellen Leere sucht. Nun, als "Lui" ("Er"), hat er es gefunden: Grinsend, zerfressen, halbdebil.
Night School
"Wie heißt die Hauptstadt von Belgien?" "Waffeln?" Das ist noch einer der besseren Witze in Malcolm D. Lees Klamaukfilm, in dem der Komiker Kevin Hart - in Sachen Popularität (hoch) und Niveau (nicht ganz so hoch) - so etwas wie der Mario Barth der USA, eine Abendschule besucht, um seinen Abschluss nachzuholen. Wie in amerikanischen Studiokomödien üblich, lernt er eine wertvolle Lektion, hier mithilfe seiner Lehrerin (Tiffany Haddish): Wenn du dich anstrengst, kannst du alles erreichen.
Pink Elephants
Wer schauspielern will, muss leiden. Zumindest, wenn es nach Bernard Hiller geht, einem so namhaften wie umstrittenen Schauspielcoach, der in seinen Kursen die Teilnehmer an ihre emotionalen Grenzen bringt. Chance zur Selbstfindung oder bloße Manipulation? Die Dokumentation von Susanne Bohlmann fällt kein Urteil über die autoritären und befremdlichen Methoden. Schonungslos zeigt sie die Brutalität einer Branche auf, die mit dem Glitzer der Traumfabrik Hollywood lockt. Unglaublich und bestürzend zugleich.
Reise nach Jerusalem
Eine Jobabsage nach der anderen, Kleingeld im Supermarkt zusammenkratzen, sich die Heizung nicht mehr leisten können: Alice, 39, ist arbeitslos, Single und gut im Vertuschen ihrer prekären Verhältnisse. Lucia Chiarlas bemerkenswertes Spielfilmdebüt malt die Abstiegsangst der gut ausgebildeten, flexiblen Enddreißiger-Generation bis ins unangenehmste Detail aus. Ein großartig gruseliges Drama mit einer grandiosen Eva Löbau.
Suspiria
Im Deutschen Herbst 1977 kommt die Amerikanerin Susie (Dakota Johnson) nach Berlin zu einer Tanz-Akademie, die von Hexen betrieben wird. Luca Guadagninos tolles Remake von Dario Argentos Giallo-Klassiker ist grandios getanzt, besetzt und gespielt (unter anderem von Tilda Swinton, Angela Winkler, Ingrid Caven). Nazi-Zeit und RAF bilden den historischen Rahmen, in dem sich die uralten okkulten Kräfte neu entfalten können. Eine ausführliche Kritik lesen Sie hier.
Was uns nicht umbringt
17 Jahre nach ihrem Erfolgsfilm "Bella Martha" schenkt Sandra Nettelbeck der Nebenfigur des Therapeuten Max (August Zwirner) ein eigenes Leben voller Probleme und tragischer Momente. Auf seiner Couch laufen alle Fäden ihres Episodenfilms zusammen: Ein schwermütiger, von zartem Humor durchzogener und einem hervorragenden Ensemble getragener Querschnitt durch unglückliche Großstadtbewohner, alle in der Mitte ihres Lebens und in mehr oder weniger tiefgreifenden Krisen. Ein eleganter Film über das Dilemma neu anfangen zu wollen, aber nicht aus der eigenen Haut zu können.