Süddeutsche Zeitung

Neu in Kino & Streaming:Welche Filme sich lohnen - und welche nicht

Lesezeit: 7 min

Kannibalen verlieben sich in "Bones and All", "Pinocchio" erwacht neu zum Leben und Angela Merkel bekommt etwas verspätet noch eine Kinodokumentation. Die Starts der Woche in Kürze.

Von den SZ-Kinokritikern

Der anatolische Leopard

Doris Kuhn: Ein sehr trauriger Zoodirektor in Ankara muss seinen Tierpark schließen, damit Investoren dort einen Vergnügungspark bauen können. Lediglich ein seltener Leopard hält das Projekt noch auf - er braucht eine artgerechte neue Unterkunft. Diese Pause nutzt der Direktor, er begeht spontan ein kleines Verbrechen, um abzuschmettern, was der Kapitalismus ihm aufzwingen will. Manchmal rührend, meistens hilflos laviert er durch das anschließende Chaos, das von Emre Kayis ohne viel Freude inszeniert wird. Aber Freude wäre in der Welt, die dieses Drama entwirft, auch fehl am Platz.

Bones and All

David Steinitz: Die Schülerin Maren hat schon ihr Leben lang Lust auf Menschenfleisch. Aber erst als sie beginnt, allein durchs amerikanische Hinterland zu pilgern, stellt sie fest, dass es viele Kannibalen wie sie gibt. Zum Beispiel den Herumtreiber Lee, mit dem sie eine Beziehung beginnt. Die Zärtlichkeiten der ersten Liebe und der brutale Ernährungsstil der Teenager passen nicht so ganz zusammen, aber das ist natürlich Absicht bei Luca Guadagnino ("Call Me By Your Name"), der einen wilden Mix aus Romanze und Horrorfilm inszeniert.

Echo

Doris Kuhn: Der Weg ist das Ziel in Mareike Wegeners Film, an dem man sieht, dass der deutsche Krimi auch sonderbarer als gewohnt sein kann. Eine Moorleiche führt eine Kommissarin ins Dunkel von Wald und Kaff. Dort findet sie adlige Exzentriker, Gräber von Zwangsarbeitern aus dem Zweiten Weltkrieg, eine Fliegerbombe, die nicht entschärft werden kann. Klingt nicht schön, wird aber in schön symmetrische Bilder gefasst, die gelegentlich ins Surreale rutschen. Es gibt sogar Raum für Humor, von der ganz absurden Sorte, weil der die Gemütslage aller Beteiligten am besten spiegelt.

Emily

Susan Vahabzadeh: Es gibt keine Biografie auf der Welt, die es so verdient hat, dass Fakten und Fiktion ineinander verschwimmen wie eine, die Emily Brontë zum Gegenstand hat, denn so war ihr kurzes Leben, und so schrieb sie "Wuthering Heights". Frances O' Connor lässt Emily (Emma Mackey) mit ihrer Romanheldin Catherine Earnshaw verschmelzen, füllt die Leerstellen, all das, was man über eine Frau, die schon 1848 gestorben ist, nicht wissen kann, liebevoll mit Leben. Ein großartig gefilmtes und gespieltes Drama, und ein Muss für alle Fans der Brontë-Schwestern und ihrer Bücher.

Glass Onion: A Knives Out Mystery

David Steinitz: Agatha Christie wäre sehr zufrieden mit diesem Film. In der Tradition ihrer Krimikomödien spielt Daniel Craig mit großer Post-007-Lust zum zweiten Mal den Detektiv Benoit Blanc, der diesmal auf einer griechischen Insel aus einer All-Star-Hollywoodtruppe den Mörder fischen muss. Rian Johnson ist ein begnadeter Regisseur und Drehbuchautor, dieser Film ist lustiger und überdrehter als der erste Teil, und der Mörder (oder die Mörderin?) liefert eine oscarreife Performance. Ideale Vorweihnachts- und Feiertagsunterhaltung (ab 23.11. im Kino, ab 23.12. bei Netflix).

Good Night Oppy

Nicolas Freund: Eigentlich sollte er nur 90 Tage auf dem Mars durchhalten, aber weder Sandstürme noch eiskalte Winter konnten den Rover Opportunity unterkriegen. Am Ende flitzte er fast 14 Jahre auf der Suche nach Wasser durch die Wüsten unseres Nachbarplaneten. Vielleicht dachte Regisseur Ryan White, ferngesteuerte Roboter auf dem Roten Planeten seien eine etwas trockene Angelegenheit. Er legte für diese Doku jedenfalls den Schwerpunkt weniger auf Technik oder Wissenschaft als auf die Emotionen, die das Nasa-Team für die Maschine entwickelt hat. Die Ingenieure, Geologinnen, Fahrerinnen und Programmierer auf der Erde haben nämlich Leben gefunden, nur nicht im Mars-Gestein, sondern in ihrer eigenen Maschine. Berührend und leidenschaftlich erzählen sie von Oppys Lebensweg auf dem Mars und ihren Gefühlen für den Rover. Am Ende muss sogar der Chef fast weinen (bei Amazon Prime Video).

Grump

Sofia Glasl: Ein grantiger Bauer aus der finnischen Pampa macht sich auf die Suche nach einem Oldtimer und findet dabei seinen verloren geglaubten Bruder wieder. "Grump" beginnt mit der Doppelbedeutung des Begriffs "Escort", der eine Sexarbeiterin, aber auch ein Automodell meinen kann, und kommt auch danach nicht richtig los von angestaubten Weltbildern und Erzählformen. Was die skandinavisch-kauzige Version von David Lynchs "The Straight Story" hätte werden können, gerät Mika Kaurismäki leider zu einem etwas zerdehnten Altherrenwitz.

Mad Heidi

Joshua Beer: Mit dem vielleicht ersten "Swissploitation"-Film aller Zeiten haben die Schweizer Jungregisseure Johannes Hartmann und Sandro Klopfstein Trash in bester Form geliefert: Heidi (Alice Lucy) rückt in einer dystopischen Schweiz zum Rachefeldzug gegen einen faschistischen Käseproduzenten aus, der seine Opfer mit Fondue waterboardet oder ihnen Toblerone in den Rachen hämmert. Ein kurzweiliger Mix aus Splatter, Horror und Western, triefend vor Blut und Spaß.

Merkel - Macht der Freiheit

Cornelius Pollmer: Ein kleines Problem für Eva Webers im Grunde gute Dokumentation ist, dass sie zu einem sonderbaren Zeitpunkt erscheint. Der große Merkel-Hunger des Publikums wurde bei ihrem Ausscheiden aus dem Amt nachhaltig gestillt. Die Frage des ungeklärten Erbes kann auch dieser Film nicht beantworten, wiewohl er dazu interessante Stimmen enthält wie die von Hillary Clinton. Ein internationales Publikum mag der Doku noch mehr abgewinnen, alle anderen bekommen neben vielen vertrauten Bildern immerhin einige selten gesendete Fundstücke aus dem Archiv und Einschätzungen einiger Größen der Weltpolitik.

Nelly & Nadine - Eine wahrhaft unglaubliche Liebesgeschichte

Martina Knoben: Nelly, eine Opernsängerin aus Belgien, und Nadine, eine geheimnisvolle Chinesin, lernen sich am Heiligen Abend 1944 im KZ Ravensbrück kennen. Sie verlieben sich ineinander, überleben beide das KZ und verbringen nach dem Krieg den Rest ihres Lebens zusammen. Magnus Gertten erzählt in seiner Doku eine ganz unglaubliche, wunderbare Liebesgeschichte, mithilfe von Nellys Tagebuchaufzeichnungen und Fotos und Filmaufnahmen von Nadine. Zugang zu diesem Material erhält Gertten durch Nellys Enkelin Sylvie, die erst im Verlauf des Films von der lesbischen Beziehung ihrer Großmutter erfährt. "Nichts ist real in einem sozialen Sinn", sagt Sylvie einmal, "bevor man es nicht ausspricht."

Neptune Frost

Magdalena Pulz: Wie eine traurige Analogie auf "Matrix". Die Menschen Zentralafrikas sind Sklaven der Technologie. Sie schürfen kostbare Metalle wie Coltan, das etwa für die Herstellung von Handys zentral ist. Diese Unterwerfung will ein antikolonialistisches Hackerkollektiv beenden. Aber nicht nur die Revolution im Untergrund, auch die queeren Untertöne aus "Matrix" werden durch die intergeschlechtliche Protagonistin "Neptune" aufgegriffen, die im Film ähnlich wie Neo den Widerstand ermächtigt und gleichzeitig die binäre Codierung der Geschlechterdichotomie erschüttert (Boy-Girl-Boy-Girl). Der Musicalfilm ist allein schon wegen des Musikgenies Saul Williams wertvoll, der zusammen mit Anisia Uzeyman Regie geführt hat. Selbstbewusst, poetisch, sogar ab und an witzig - aber auch wirklich schwere Kost.

Pinocchio

Philipp Bovermann: Wie viele große Märchen schwebt auch die Geschichte von Pinocchio silberglänzend über Andeutungen schrecklicher Ängste: Ein allein lebender alter Mann schnitzt sich ein Marionetten-Kind. Guillermo del Toro und Mark Gustafson erwecken diese bei Disney ausgeklammerten düsteren Aspekte, diese Puppe zum Leben - zugleich aber entzünden sie alle Kerzen der Fantasie, alle Fackeln des Humors. Um Heilung nach einem Verlust geht es hier. Um den Tod. Trotzdem ist dieser Animationsfilm, der sich wie der jüngere Bruder von del Toros Meisterwerk "Pans Labyrinth" anfühlt, nicht nur ein Erwachsenenmärchen, sondern scheint sich tatsächlich auch an Kinder zu richten. Angesichts der Thematik ein kühnes Unterfangen - das aber gelingt, weil in diesem verfluchten Holz etwas schlägt, das noch stärker ist als ein Herz (ab 24.11. im Kino, ab 9.12. bei Netflix).

Servus Papa, See You in Hell

Anna Steinbauer: Ein exaltierter, packender Spielfilm von Christopher Roth über das Leben in der berüchtigten Otto-Mühl-Kommune, der auf den Erinnerungen von Jeanne Tremsal beruht, die ihre Kindheit und Jugend dort verbrachte. Die Hippie-Utopie eines Lebens fernab von Kleinfamilie und gesellschaftlichen Zwängen stellt sich als autoritäres und brutales Machtkonstrukt eines verblendeten Gurus heraus, als sich die 14-jährige Jeanne in den 16-jährigen Jean verliebt - und damit gegen die Regeln der Kommune verstößt, in der die Zweierbeziehung als Ursprung alles Bösen gilt. So schambefreit wie fesselnd: Clemens Schicks Selbstdarstellungsschreitänze zu Dirk von Lowtzows Gitarrenperformance.

Shattered - Gefährliche Affäre

Anke Sterneborg: Der geschiedene Chris lebt fern der Zivilisation im mondänen Betonpalast. Als er eines Abends beim Late Night Shopping am Weinregal die aufreizend hilflos wirkende Sky (Lilly Krug, die Tochter von Veronika Ferres) trifft, ist es ziemlich schnell um ihn geschehen. Doch, wo die Liebe hinfällt, das ist in dieser erotisch befeuerten Variante des Home-Invasion-Thrillers keine Frage von Zufall und Schicksal, sondern von eiskalter Berechnung. Unter der Regie des spanischen TV-Regisseurs Luis Prieto spielt Lilly Krug ein besonders böses Exemplar der Femme fatale, und John Malkovich verbreitet in einer Nebenrolle als schmieriger Vermieter zusätzliches Unbehagen.

Strange World

Fritz Göttler: Ein Öko-Indiana-Jones als Disney-Animation, futuristisch und naiv korrekt. Mit ungewöhnlichem Generationen-Clash, der Vater, Jaeger Clade, will ins Weite, will wissen, was hinter den unübersteigbaren Bergen ist, der Sohn, Searcher Clade, baut brav eine Existenz als Farmer auf, eine Musterfamilie auch nach Diversitätskoordinaten. Dann aber muss die Familie los, um ihre seltsame Welt zu retten, und die Gefahren, mit denen sie im unbekannten Draußen konfrontiert werden, sind nichts gegen den Schrecken im Innern. Und erst gegen Ende merkt man, warum einem die schillernden fantastischen Formen, die Don Hall und sein Team hier ihr Unwesen treiben lassen, uns eigentlich doch sehr bekannt sind.

Die Schwimmerinnen

Verena Mayer: Auf ihrer Flucht aus Syrien über das Meer retten die Schwimmerinnen Yusra und Sarah Mardini 2015 viele Menschenleben. Yusra Mardini schaffte es später zu den Olympischen Spielen, Sarah wurde Flüchtlingshelferin. Ihre Geschichte ging um die Welt, nun gibt es auch einen Film von Sally El Hosaini. "Die Schwimmerinnen" erzählt als typischer Sportlerfilm, wie man es selbst aus widrigsten Lebensumständen an die Weltspitze schafft. Er leuchtet aber auch sehr konkret aus, was Krieg und Flucht bedeuten und wie Menschen sich in einem Leben wiederfinden, das sie nie wollten (bei Netflix).

Wet Sand

Anna Steinbauer: Ein kleines georgisches Dorf am Schwarzen Meer wird zum Ort von queerer Selbstermächtigung und Solidarität. Als der alte Eliko in seinem Haus erhängt aufgefunden wird, reist seine Enkelin aus Tiflis an und stößt auf ein Netz aus Lügen, Geheimnissen und verborgener Sehnsucht. Ein Manifest der georgisch-schweizerischen Regisseurin Elene Naveriani gegen Homophobie. "Follow your fucking dreams!" steht auf der Jeansjacke der Barfrau Fleshka. Das ist als Kampfansage gemeint.

Zeiten des Umbruchs

Tobias Kniebe: Die Blässe im Gesicht deutet Zartheit an, die großen Augen schauen staunend, die Haare fallen in engelsgleichen Locken in die Stirn. James Gray erzählt von dem Sechstklässler in Queens, der er einst war, will sich dann aber doch nicht nur als sensible, missverstandene junge Künstlerseele feiern. Sein Coming-of-Age-Film handelt auch vom schwarzen Mit-Träumer Johnny, der denselben Unsinn gemacht hat, aber nicht so glücklich damit davonkam. Heranwachsen heißt in diesem tollen Film, gewissen Realitäten der USA ins Auge zu schauen, die bis heute nichts von ihrer Bitterkeit verloren haben.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5700645
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.