Kino:Ein Kriegsherr namens Pig

Kino: Oscarnominiert: Gary Oldman als Winston Churchill in "Darkest Hour".

Oscarnominiert: Gary Oldman als Winston Churchill in "Darkest Hour".

(Foto: AP)

Das Weltkriegs-Drama "Die dunkelste Stunde" gibt Winston Churchill seine Menschlichkeit zurück, vor allem durch das Spiel von Gary Oldman. Aber der Film zeigt auch die Unsicherheit der britischen Gegenwart.

Von Tobias Kniebe

Wenn es hier einen überzeugenden Moment des Zweifels gibt, dann ganz zu Beginn. Da sitzt Sir Winston Churchill im rosafarbenen Schlafrock in seinem Bett, das Champagnerfrühstück und die frischgebügelte Zeitung vor sich, die unvermeidliche Zigarre schon im Mundwinkel, und er sieht ungefähr so zerzaust und zerknautscht aus wie das whiskyliebende, sportverachtende, 65-jährige Mondgesicht, das er ist. Er könnte jetzt zum König fahren, den Job des Premierministers annehmen, seinen Schwur durchziehen, sich Hitler entgegenzustemmen - und mit Blut, Schweiß und Tränen den Krieg gewinnen. Er könnte aber auch einfach im Bett bleiben.

Es ist der 10. Mai 1940, und dieser Morgen ist der schönste Moment in Joe Wrights Historiendrama "Die dunkelste Stunde". Der Film ist nur der letzte einer ganzen Reihe aktueller Kinoerzählungen, in denen sich die Briten ihre hoffnungslosesten Momente des Zweiten Weltkriegs vergegenwärtigen, um dann geradezu beschwörend die Zähigkeit und Entschlossenheit zu feiern, mit der sie das Schicksal noch einmal gewendet haben. Christopher Nolans Schlachtengemälde "Dunkirk" zum Beispiel beginnt in der Chronologie der Ereignisse zwei Wochen später, erzählt aber im Wesentlichen dieselben dramatischen Tage.

"Ich krieg den Job doch nur, weil das Schiff schon sinkt."

Nun weiß man ja aus den Geschichtsbüchern, dass Churchill (Gary Oldman) an jenem Morgen nicht im Bett geblieben ist. Wie er aber als Ehemann, Choleriker und Gewohnheitstier herumfuhrwerkt, bis er endlich in seine Limousine steigt und seine Aufgabe annimmt, wird doch sehr lustvoll ausgemalt. Er brüllt seine neue Sekretärin an, weil sie einen Fehler macht, er versucht, seine Katze unter dem Bett hervorzulocken, er sagt seinem Sohn am Telefon, noch sei gar nichts entschieden.

Besonders lebensnah und plausibel erscheint das Hin und Her mit seiner Frau Clementine, der Kristin Scott Thomas ihre wie immer umwerfend aristokratische Aura verleiht. Er nennt sie Clemmie oder Cat, sie nennt ihn liebevoll Pig. "Ich krieg den Job doch nur, weil das Schiff schon sinkt", klagt er, während sie ihm die Weste zuknöpft. Sie ermahnt ihn, seine wahren Qualitäten zu zeigen, da fallen ihr einige ein, ihm aber nur "fehlendes Urteilsvermögen" und "eiserner Wille". Wobei er das "eisern" gänzlich uneisern ausspricht, so müde und unernst und vernuschelt, dass man den Mann gleich ins Herz schließen muss.

Kino: Churchill braucht Hilfe. Wer hilft? Das einfache Volk. Wo? In der U-Bahn. Das ist zwar ein Märchen, aber Gary Oldman verleiht seiner Figur trotzdem Glaubwürdigkeit.

Churchill braucht Hilfe. Wer hilft? Das einfache Volk. Wo? In der U-Bahn. Das ist zwar ein Märchen, aber Gary Oldman verleiht seiner Figur trotzdem Glaubwürdigkeit.

(Foto: Jack English)

Das Ziel ist offenbar, dieser überlebensgroßen Figur zunächst einmal Menschlichkeit und Schrulligkeit zurückzugeben. Da hat der Drehbuchautor Anthony McCarten, der seine Studien gleich auch noch in einem historischen Sachbuch veröffentlicht hat ("Die dunkelste Stunde", Ullstein), gute Arbeit geleistet, und der Regisseur Joe Wright verfilmt dieses Script ganz schnörkellos, mit größtmöglichem Raum für die Schauspieler.

Denn entscheidend ist am Ende das Spiel von Gary Oldman, der dafür gerade den Golden Globe gewonnen hat und auch bei den Oscars gut im Rennen liegt. Dieser eigentlich ja eher scharfgesichtige Schauspieler, bekannt aus dem Punkkino der Thatcher-Jahre und seither vor allem auf Hochspannungs-Freaks spezialisiert, verwandelt sich mit Leib und Seele und vielen Schichten Latex-Make-up in ein Riesenbaby, zu dem der Kosename "Pig" wirklich passt. Sein Churchill scheint sich beim Agieren auf der Welt- und Familienbühne immer auch ironisch über die Schulter zu schauen. Vor allen tieferen Qualitäten, die irgendwo unter seinen Fettschichten verborgen sein müssen, steht hier die Erkenntnis, dass auch die Politik nichts anderes als ein Schauspiel ist, mit den legendären Durchhaltereden als den alles entscheidenden Monologen.

Damit die dunkelste Stunde auch wirklich zappenduster wird, betont der Film in vielen Hinterzimmer- und Generalstabs-Szenen nun die Widrigkeiten, mit denen Churchill in seinen ersten Wochen als Premierminister zu kämpfen hatte. Das politische Establishment hasst ihn als Querulanten und Angeber, vor allem die eigene Partei; King George VI. (Ben Mendelsohn) ernennt ihn nur widerwillig; Churchills beinharte Haltung gegen Hitler, die ihm den Job verschafft hat, ist zwar unbezweifelbar, sein Ruf als Kriegsstratege aber durch gescheiterte Militärkampagnen in der Vergangenheit schon schwer beschädigt. Und dann rücken Hitlers Panzer auch noch mit solcher Geschwindigkeit in Frankreich vor, dass viele der vornehm näselnden Lords um ihn herum zu Verrätern mutieren, die den Krieg schon verloren geben und mit Hitler über einen Friedensvertrag verhandeln wollen.

Natürlich ist es verführerisch, das alles ganz nah an Churchill entlang zu erzählen, praktisch als Studie seines Gesichts, auf das all diese furchtbaren Meldungen einprasseln. Aber damit spinnen die Filmemacher auch unausweichlich die alte Legende weiter, dass eben doch nur große Männer Geschichte schreiben, dass sie das Zünglein an einer Waage sind, die sich jederzeit zur falschen Seite neigen kann.

Besonders auffällig wird das, wenn der Film in seine Dunkirk-Phase eintritt. Dass plötzlich 400 000 britische Soldaten an der nordfranzösischen Küste eingekesselt sind, erfährt man noch, und auch, dass zivile Boote zu ihrer Rettung geschickt werden. Dass diese Rettung dann aber gelingt und von der ganzen Nation als Triumph gefeiert wird, lässt der Film außen vor.

Warum diese auffällige Leerstelle? Es soll suggeriert werden, dass Churchill just in diesen Stunden seine tiefsten Zweifel in den Gewölben der "Cabinet War Rooms" durchlebt - und schließlich überwindet. So werden die Geschehnisse im Kopf eines einzelnen Mannes plötzlich wichtiger als alle militärischen Entwicklungen.

Muss man nicht Angst haben vor einem Land, das sich seine Geschichte im Kino erfindet?

Und so glaubwürdig es dem Film vorher gelungen ist, Churchill als Mensch lebendig werden zu lassen, so unplausibel und falsch wirkt nun dieses Psychodrama. Weshalb es dann auch nicht verwundert, dass der Autor McCarten noch eine frei erfundenen Sequenz dazudichtet. Ganz aus eigener Kraft findet sein Held schließlich doch nicht zu seiner Unbeugsamkeit - das einfache Volk muss ihm helfen. Und wie das passiert, ist schon großartig absurd.

Eines Morgens steigt also Churchill in die London Underground ein, zum ersten Mal in seinem Leben. Die Pendler schießen aus ihren Sitzen empor, als sie ihn erkennen, er entspannt sie mit ein paar Witzen, erkundigt sich nach Namen und Tätigkeiten. Und fragt sie schließlich ganz direkt, was wäre, wenn der Feind schon oben durch die Straßen Londons marschierte.

"We'll fight", tönt die Antwort bei allen, vom Maurer über die Handtaschen-Lady bis zum jungen Schwarzen: Kämpfen mit allem, zur Not mit Besenstielen! Aber was, wenn ein Friedensvertrag mit Hitler möglich wäre, zu durchaus vorteilhaften Bedingungen, fragt Churchill weiter. Ein donnerndes "Never" hallt durch den U-Bahnwaggon, zuletzt wiederholt von einem kleinen Mädchen. Da zitiert Churchill ein Gedicht von Thomas Babington Macaulay über das ruhmvolle Sterben im Kampf, und als der junge Schwarze die beiden letzten Zeilen korrekt zu Ende deklamieren kann, gibt es kein Halten mehr. Die britische Bulldogge weint wie ein Schlosshund.

Darf man noch einmal betonen, dass diese Fahrt in der U-Bahn nie stattgefunden hat? Und müsste man dann nicht ein bisschen Angst haben vor einem Land, das sich zur Stärkung in verwirrenden Brexit-Zeiten mit solch sentimental-nationalistischen Kinoerfindungen Trost spendet? Vielleicht. Der klassische britische Spirit, den man in früheren Zeiten so bewundern konnte, beließ es in Sachen eiserner Wille gern beim vernuschelten und ironischen Unterton - weil man sich eben sicher sein konnte, dass es ihn irgendwo noch gab. "Die dunkelste Stunde" aber erzählt am Ende gar nicht so sehr von der Geschichte, deren Ausgang man kennt, sondern von den Nöten der Gegenwart - und blickt dabei in einen Abgrund aus neuer Unsicherheit.

Darkest Hour, GB 2017 - Regie: Joe Wright. Buch: Anthony McCarten. Kamera: Bruno Delbonnel. Mit Gary Oldman, Kristin Scott Thomas, Lily James, Ben Mendelsohn. Verleih: Universal, 126 Minuten.

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