Kino:"Blade Runner 2049" ist grandioser als das Original

Denis Villeneuves Film stellt nicht nur die richtigen Fragen zur Zukunft des Menschen, sondern beantwortet sie auch mit hypnotischen Bildern.

Von Tobias Kniebe

Als Roy Batty den Tod in sich aufsteigen fühlte, lag Verzweiflung in seinen stahlblauen Augen. Das große Spiel des Lebens war zu kurz für ihn. Ganze vier Jahre durfte er mitspielen, bis zur eingebauten Verfallszeit seines Replikantenkörpers. Alles, was er in dieser Zeit erworben hatte, alles Wissen und aller Kampfgeist, halfen nicht, das Ende aufzuschieben. Darüber war er zum Grübler geworden. Seine letzten Worte beschworen Erinnerungen von außerweltlicher Schönheit.

Seither sehen wir sie manchmal in unseren Träumen: Gigantische Schiffe, brennend vor der Schulter des Orion. C-Beams, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor. Allein dieser Name, Tannhäuser Tor! Wir brauchen ihn nur zu raunen, ganz leise zu uns selbst, schon bricht die Fantasie zu einer neuen Reise ins Weltall auf. So leben Roy Battys Erinnerungen, anders als er fürchtete, fort in all jenen, die sich von Ridley Scotts Film "Blade Runner" in den vergangenen 35 Jahren berühren ließen.

Ob das ein Trost für Roy Batty wäre? Dass er in der kurzen Zeit seiner Existenz die Gabe des Erzählens gemeistert hat, und damit einen Weg, dem Horror der Endlichkeit zu entkommen, jener immerwährenden Löschroutine aller Bilder, Erkenntnisse und Erfahrungen? Klar war seither jedenfalls eins: Wer es wagen würde, "Blade Runner" weiterzuerzählen, würde es mit der Schönheit von Roy Battys Erinnerungen aufnehmen müssen.

Erstaunlicherweise vermitteln schon die ersten Minuten der Fortsetzung "Blade Runner 2049", dass die Sache in sicheren Händen ist. Etwa die Tonspur: voller Donnergrollen, elektrostatischer Entladungen und elektronischer Walfischgesänge, die klagend durch ferne, undurchdringlich graue Smogschichten hallen. Hier wird Vangelis beschworen, der Komponist des Originals. Es war Hans Zimmer, der sich zu dieser musikalischen Demutsgeste bereitfand. Zusammen mit einem Partner, der tatsächlich Benjamin Wallfisch heißt.

Werden Erinnerungen weniger wertvoll, wenn man sie nicht selbst erlebt hat?

Oder der langsame Anflug. Wie wichtig all diese langsamen Anflüge des alten "Blade Runner" doch waren! Eigentlich ja Routinefahrten, ein Polizeiauto auf dem Weg von A nach B, in normalen Polizeifilmen würde man das wegschneiden. In "Blade Runner" aber geht es eben durch die Luft, das sind jedesmal Meditationen über den Zustand der Welt und der Menschheit und ihrer Metropolen, selbstverständlich auf Autopilot, da fängt das Träumen schon an. Und wieder einmal wird klar: Das selbstfliegende Auto, Google bitte aufgepasst, ist wirklich das größte uneingelöste Versprechen der Zukunft. Diese neuen Anflüge spielen nun exakt dreißig Jahre nach den alten, immer noch in Greater Los Angeles, und man sieht: Alles ist noch grauer, noch diesiger, noch hoffnungsloser geworden. Gleich zu Beginn geht es hinaus aufs Land, man blickt über Felder mit endlosen Tunneln aus Plastikfolie, in denen die Farmer Raumanzüge tragen, weil sie Zeug versprühen, aus dem dann synthetische Proteinwürmer heranwachsen. Alles dank der Wallace Corporation, dem letzten Ernährer der Menschheit. Keine Pflanze und kein echtes Tier mehr, soweit das Auge blickt.

Vor allem aber spürt man sofort, dass hier Zeit vorhanden ist. Zum Einatmen. Zum Ausatmen. Zum langsamen Versinken. Wirkliche Zeit zum Stauen und Abschweifen. Die hatte das Kino vor dreißig Jahren noch, inzwischen hat sie fast niemand mehr, zu flattrig sind unsere Augenlider geworden, zu nervös unsere zuckenden Fast-Forward-Daumen.

Aber nicht hier. Es ist, als habe der kanadische Regisseur Denis Villeneuve sich zuerst einmal selbst hypnotisiert, um jegliche innere Hektik aus seinem System zu tilgen, um all die dystopischen Breitwandgemälde wirken zu lassen, die er hier zeigen will, die sein Produktionsmagier Dennis Gassner und sein Kamera-Großmeister Roger Deakins ihm geschaffen haben. Wenn es einen dominanten Zug gibt, der Villeneuves Alleskönner-Karriere durchzieht, von "Prisoners" über "Sicario" bis zu "Arrival", ist es die unerschütterliche Ruhe eines Künstlers, der seinen Ideen und seinen Mitstreitern vollständig traut. Dieses Vertrauen dehnt er hier auf fast tranceartige zweidreiviertel Stunden aus - gekämpft und getötet wird zwischendrin schon auch.

Alles hängt wieder mit dem Erinnern zusammen

Über die Felder aber fliegt ein Officer des Los Angeles Police Department, der keinen Namen trägt, nur vorne ein K, gefolgt von einer Ziffer. Später wird er sich Joe nennen, und das ist dann wohl wirklich ein Kopfnicken in Richtung Franz Kafka und seinen Josef K. aus dem "Process". Officer K. verfolgt künstliche aber täuschend echt aussehende Menschen, die geflohen sind, ihren Besitzern nicht mehr gehorchen und deshalb "pensioniert" werden müssen. Sie werden noch immer Replikanten genannt, ihre Jäger noch immer "Blade Runner", und das bevorzugte Mittel ihrer Pensionierung ist noch immer ein Schuss in den Kopf.

Und entwertet es die Hingabe einer schönen Frau, wenn man sie nicht berühren darf?

K., das wird schon bei seinem ersten Einsatz klar, ist selbst ein Replikant, ein neueres Modell, das keinen Funken von Rebellion mehr in sich trägt und außerdem nach jedem Einsatz psychologisch brutal getestet wird, ob seine "Basiswerte" noch in Ordnung sind. Mit ihm fühlen sich die Menschen sicher - etwa die herrische Polizeibeamtin (Robin Wright), der er zugeordnet ist. Anders als bei den älteren, aufständischen und leider viel zu langlebigen Modellreihen, die sich an ihre Existenz klammern und die inzwischen als biotechnische Fehlschläge gelten. Die muss er aus dem Verkehr ziehen.

Ryan Gosling spielt diesen Officer K., und die somnambule Souveränität, die er dafür braucht, scheint er bereits aus früheren Filmen mitzubringen, etwa Nicolas Winding Refns "Drive". Auf dem Gang vor seinem engen Apartment herrscht permanenter Krawall, kein Gedanke mehr an die apokalyptische Leere der Stadt noch vor dreißig Jahren. Der Trost seiner Abende aber ist Joi (Ana de Armas), die wunderschöne Virtual-Reality-Gefährtin für alle, für die echte Lust-Replikanten unerschwinglich sind. Sie bemüht sich im Rahmen ihrer Algorithmen, ihm eine echte Freundin zu sein. Er teilt sogar Geheimnisse mit ihr, und schwer halluzinatorisch ist dann die Szene, in der sie eine Prostituierte anheuert, endlich fast berührbar wird und beim Sex beinahe mit der anderen Frau verschmilzt.

Ein Replikant aber, der nicht bald existenzielle Fragen stellte, wäre der Fortschreibung dieser großen Geschichte unwürdig. Und so geschieht es auch. Man kann als Kritiker nur leider kaum erzählen, welche Entdeckungen und Ereignisse es sind, die Officer K. im Zuge seiner Arbeit im Innersten aufwühlen und ihn plötzlich auf eine ganz andere Suche schicken, eine Reise der Selbsterforschung, voller Angst und Hoffnung zugleich. Fast flehentlich sind die Bitten des Regisseurs und des Studios, keine Hinweise zu geben, die Zuschauer selbst in diesen Fragen versinken zu lassen.

Aber natürlich hängt alles wieder mit den Erinnerungen zusammen und mit dem ewigen Replikantenrätsel, ob diese nur synthetisch sind oder wirklich erfahren und erlebt. Da kann die Frage, ob ein geschnitztes Kinderholzpferd noch immer an der Stelle liegt, wo es vor Jahrzehnten versteckt wurde, nicht nur existenziellen Suspense entwickeln - auf einmal hängt die ganze Ordnung der Dinge in dieser Sklavenhalterwelt davon ab.

Und dann diese Hologramme der Nostalgie überall, Sinatra, Elvis, Marilyn Monroe. Künstliche Erinnerungen sind ja nicht nur ein Replikatentenproblem. Retro-, Revival- und Fortsetzungsfallen, wohin man blickt, wovon sich der Film aber nicht aufhalten lässt. Souverän schwebt er weiter, unaufhaltsam auf dem Weg zu eigener Größe, auf einem Passionsweg, wo jede Station zum visuellen Fest wird, jede einzelne mit der Kraft, neue Träume zu prägen. Am Ende reibt man sich beinahe ungläubig die Augen. War da wirklich eine Müllhaldenwelt, wo früher San Diego lag, mit marodierenden Banden und versklavten Kinderheeren, die seltene Metalle aus dem Schrott extrahierten? Oder diese Replikanten-Geburtsschleimszene mit dem wahnsinnigen Großindustriellen Niander Wallace (Jared Leto), der nicht nur die Menschheit ernährt, sondern auch den Replikanten-Hersteller von damals übernommen hat? Oder dieser Besuch bei der Meisterin der Gedächtnisimplantate (die "Feuchtgebiete"-Schweizerin Carla Juri auf dem Sprung zum Weltruhm), die uns bei der todtraurigen Kreation eines Kindergeburtstags zusehen ließ?

Vielleicht, aber wir werden da noch mal zurückkehren müssen. Genau wie in die radioaktive "Todeszone" Las Vegas, wo man endgültig den Verstand zu verlieren glaubt, weil es aussieht, als hätte der russische Kinomystiker Andrei Tarkowski hier mit dem Popart-Egomanen Jeff Koons einvernehmlichen Sex gehabt. Und das ist dann auch der Ort, wo Harrison Ford endlich auftauchen darf - als der grimmige Rick Deckard, einst selbst ein "Blade Runner", nun aber ein Gejagter wie alle anderen Renegaten auch. Er könnte ein paar entscheidende Fragen aus der Vergangenheit beantworten - oder auch einfach keine Lust dazu haben.

Denn entscheidend ist am Ende eben doch, was K., den Erkenntnissucher, quält. Und nahezu genial sind die Antworten, die "Blade Runner 2049" ihm geben kann - wenn auch nur implizit. Werden Szenen, die sich tief in dein Gedächtnis eingegraben haben, weniger wertvoll dadurch, dass du sie nicht selbst erlebt hast? Und entwertet es die Hingabe einer wunderschönen Frau, die dir täglich voller Liebe in die Augen blickt, wenn du sie nicht berühren kannst? Es existiert eine Droge, die Antwort darauf gibt. Sie hat lebensverändernde Macht und tiefe halluzinatorische Wirksamkeit, und wir Menschen kennen sie seit mehr als hundert Jahren. Wir haben sie Kino genannt.

Blade Runner 2049, USA 2017 - Regie: Denis Villeneuve. Buch: Hampton Fancher, Michael Green. Kamera: Roger Deakins. Ausstattung: Dennis Gassner. Musik: Hans Zimmer, Benjamin Wallfisch. Mit Ryan Gosling, Harrison Ford, Ana de Armas, Sylvia Hoeks, Robin Wright, Jared Leto. Sony, 163 Min.

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