Süddeutsche Zeitung

Kino:Die Not im Nacken

Die kasachische Schauspielerin Samal Yeslyamova stellt in dem Film "Ayka" eine Moskauer Arbeitsmigrantin so eindringlich dar, dass sie in Cannes dafür ausgezeichnet wurde.

Von Martina Knoben

Die erste Einstellung zeigt vier Säuglinge, die nebeneinander liegend in einem ratternden Wägelchen gefahren werden. Es ist ein friedliches Bild - wie ein Luftholen in einem später atemlosen Film: Wohin werden die Babys geschoben? Was erwartet sie?

Auslöser für den Film "Ayka" war eine Statistik in einer Zeitung: "Im Jahr 2010 wurden in Moskauer Geburtskliniken 248 Babys von Müttern aus Kirgisistan aufgegeben." Der aus Kasachstan stammende Regisseur Sergey Dvortsevoy war geschockt, wie er später erklärte, und wollte dem "unnatürlichen" Verhalten auf den Grund gehen. So entstand mehr als zehn Jahre nach seinem letzten Film "Tulpan" (2008) "Ayka", ein schmerzhaft eindrücklicher Einblick in das Leben von Arbeitsmigranten in Moskau.

"Steh auf, du musst dein Baby stillen!" Mit diesem Imperativ nimmt der Film seine Titelheldin in den Blick. Doch statt sich um ihren Säugling zu kümmern schlurft die kirgisische Arbeitsmigrantin Ayka mit einer Plastiktüte in der Hand ins Badezimmer. Sie wirkt mitgenommen von der Entbindung, ihr Gesicht verschwindet fast hinter einem Vorhang verschwitzt-klebriger Haarsträhnen. Im Bad stöhnt sie und hält kurz inne. Aus Erschöpfung? Oder weil sie Abschied nimmt? "Dein Kind schreit - komm stillen!", tönt es wieder aus dem Off. Hektisch nestelt Ayka an einem Klebeband am Fenster, schließlich kippt die Scheibe nach innen auf, mühsam klettert sie darüber. Nichts wird Ayka leicht gemacht. Sie stolpert nach draußen und hetzt durch tief verschneite Straßen, verfolgt von aggressivem Hupen und Hundegebell und von der Kamera, die ihr im Genick sitzt.

Der Regisseur Sergey Dvortsevoy schafft eine Atmosphäre der Enge, die kaum auszuhalten ist

Ein Jahrhundert-Schneesturm pfeift durch die Straßen und lässt Aykas Wege durch die Stadt auch als physischen Überlebenskampf erscheinen. Die frisch Entbundene hat Schmerzen und starke Blutungen. Vom Krankenhaus aber hastet sie gleich in einen improvisierten Schlachthof, wo sie mit anderen Frauen Hühner rupft und ausnimmt, im heißen Dampf und im Akkordtempo. Die Kamera folgt ihr, auch sie wirkt getrieben. Ruhig werden die Bilder erst, als alles vorbei ist, Aykas Auftraggeber abgehauen sind, ohne ihr den Lohn für ihre Arbeit zu geben. Dabei bräuchte sie dringend Geld, ein Schuldeneintreiber sitzt Ayka im Nacken und terrorisiert sie mit Anrufen auf ihrem Handy. Es ist nicht nur die Natur, die gnadenlos wirkt in dieser Stadt.

Die junge kasachische Schauspielerin Samal Yeslyamova, die schon in "Tulpan" mitspielte, verkörpert Ayka zurückhaltend und eindringlich. Oft verschwindet ihr Gesicht fast hinter ihren Haaren oder in der Kapuze ihrer Jacke. Und doch ist dieses Gesicht der Mittelpunkt des Films. Wenn sie Ayka nicht hinterher hastet, notiert die Kamera jede ihrer Regungen: den gehetzten Blick und ihre unendliche Erschöpfung, ihre Verzweiflung, Angst, aber auch Momente von Lebendigkeit gegen alle Hoffnung. Für ihr intensives Spiel wurde Samal Yeslyamova in Cannes mit dem Preis als beste Darstellerin ausgezeichnet.

Obwohl die Kamera an Ayka hängt wie an einem Magneten, die Atmosphäre des Films beklemmend eng ist, zeichnet der Film das Porträt einer ganzen Gesellschaft, die als Kette von Unterdrückung und Ausbeutung erscheint. Ayka schläft in einem illegalen Hostel, wo sie mit anderen Arbeitsmigranten auf engstem Raum lebt. Ihr Vermieter nützt die Not der Menschen ohne Papiere aus - und wird selbst wiederum von korrupten Polizisten ausgenommen. Alle wirken gehetzt in diesem Film, getrieben von existenziellen Nöten. Aber die Not verbindet die Menschen nicht. Wer kann, gibt den Druck nach unten weiter.

Dass Ayka eine von vielen ist, illustrieren Szenen in überfüllten Metro-Stationen. Wie ferngesteuert sehen die Menschenströme auf den Rolltreppen aus. Viele Einstellungen wirken fast dokumentarisch. Wie kunstvoll die Inszenierung ist, lässt sich leicht übersehen. Es gibt jede Menge sprechender Details - Geräusche oder Gesprächsfetzen auf der Tonspur und kleine Hinweise durch die Ausstattung, etwa ein Plakat der Fußballweltmeisterschaft. Dazu kommt trübes Winterlicht mit manchmal seltsamer Einfärbung durch die Lichtbrechung des Schnees. Es verleiht dem Geschehen in diesem Film etwas Surreales und lässt Aykas Leben wie in einer Blase erscheinen. Diese Enge ist auch für den Zuschauer schwer auszuhalten.

Dieser Realismus erinnert an die belgischen Dardenne-Brüder, auch thematisch gibt es viele Überschneidungen. In deren Film "Das Kind" ging es um einen jugendlichen Nichtsnutz, der sein Baby verkauft. Auch Ayka kommt auf diese Idee. Der Säugling, den sie am Anfang zurückgelassen hat, ist lange nicht zu sehen, bleibt aber immer gegenwärtig, nicht nur durch die Blutungen und den Milchstau, unter denen Ayka leidet. Wenn sie beim Hühnerausnehmen Innereien aus der Bauchhöhle der Tiere rupft, verweist das ebenso auf die Geburt wie eine Großaufnahme saugender Hundewelpen oder die Familienfotos einer Mitbewohnerin. In der Mechanik der Ausbeutung erscheint das Menschliche jedoch als Unregelmäßigkeit - als Luxus, den sich Ayka nicht leisten kann.

Ayka, Russland/D/Polen/Kasachstan/China 2018 - Regie: Sergey Dvortsevoy. Buch: Sergey Dvortsevoy, Gennady Ostrovsky. Kamera: Jolanta Dylewska. Schnitt: S. Dvortsevoy, Petar Markovic. Mit: Samal Yeslyamova, Zhipargul Abdilaeva, David Alaverdyan, Sergey Mazur. Verleih: Neue Visionen, 110 Minuten.

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SZ vom 23.04.2019
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