Kino:Die magischsten Momente des Kinojahres

Josef Hader im Tiefschnee, ein Bär, der seine Mithäftlinge verzaubert und holografischer Sex in "Blade Runner 2049" - welche filmischen Augenblicke von 2017 bleiben.

Von den SZ-Kinokritikern

"Hell or High Water" von David Mackenzie

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(Foto: Lorey Sebastian; © Wild Bunch)

Das Narbengesicht am Pokertisch sieht indianisch aus und bestätigt, Komantsche zu sein. Das fasziniert den weißen Outlaw, gespielt von Ben Foster mit schöner, todesmutiger, dunkler Energie. "Lords of the Plains!" ruft er. "Lords of nothing now", murmelt das Narbengesicht. Haben und Nichthaben in Amerika, darum geht es in Taylor Sheridans großer Story. Die Männer könnten sich in diesem Moment an die Kehle gehen, aber dann finden sie eine Verbindung im geteilten Komantschentum: entrechtet und erniedrigt zu sein, verfeindet mit der ganzen Welt. Von Tobias Kniebe Lust: "Fikkefuchs", Jan Henrik Stahlberg Frust: "The Comedian", Taylor Hackford

"Wilde Maus" von Josef Hader

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(Foto: N/A)

Keiner scheitert schöner. Die Absicht, den Chef erschießen zu wollen, mündet in der erbärmlichsten Schlägerei des Kinojahres, und auch ein Suizid will gelernt sein. Da hockt er im Schnee der Bergwelt, der Josef Hader, das Brillenglas zersprungen, der Oberkörper nackt, und dann schüttet er Tabletten in die Whiskey-Flasche. Zwei Typen wollen ihn retten, doch er flieht. Wie sich Hader ergo den Weg durch den Schnee bahnt, großspurig und tapsig, zu Vivaldis "La Follia", ist lustig, tragisch, musikalisch, groß. Von Bernhard Blöchl Lust: "Fikkefuchs", Jan Henrik Stahlberg Frust: "Ganz große Oper", Toni Schmid

"120 BPM" von Robin Campillo

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(Foto: Salzgeber)

Paris in den frühen Neunzigerjahren. Im Kampf gegen Aids hat ein "Act up"-Aktivist recht drastisch um Aufmerksamkeit gekämpft, mit Kunstblut und Sperma; doch vergebens, er stirbt an den Folgen seiner HIV-Infektion. Die Freunde erfüllen ihm seinen letzten Wunsch und entern eine Gala, dort verstreuen sie seine Asche auf Politiker, Pharmalobbyisten, dem Buffet. Dann wird es dunkel, Musik setzt ein: Es wird gefeiert, getanzt und gefickt, alles zu 120 Beats pro Minute. Der Kampf geht weiter. Von Josef Grübl Lust: "The Square", Ruben Östlund Frust: "Hacksaw Ridge", Mel Gibson

"The Salesman" von Asghar Farhadi

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(Foto: Habib Majidi; © Habib Majidi)

Spott kann sehr entlarvend sein. Der iranische Regisseur Asghar Farhadi lässt eine Theatertruppe in Teheran "Tod eines Handlungsreisenden" proben, jene Szene, in der Willy Lomans Sohn hereinplatzt, während im Bad gerade eine fremde Dame duscht. Die Inszenierung muss früher oder später die strenge Zensur überstehen, also ist die Schauspielerin natürlich bekleidet - und zwar, zur Belustigung der restlichen Truppe, mit dem absurdesten Kleidungsstück, mit dem sich ein Mensch unter die Dusche stellen könnte: Es ist ein knallroter Regenmantel, wasserfest. Wenn die Kunst sowieso gezwungen wird, der Realität aus dem Weg zu gehen, ist Duschen sowieso sinnfrei. Von Susan Vahabzadeh Lust: "Fences", Denzel Washington Frust: "Alien: Covenant", Ridley Scott

"Paddington 2" von Paul King

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(Foto: Studiocanal GmbH)

Dieser Bär macht die Welt zu einem besseren Ort. Sogar der Knast, in dem Paddington durch eine Verkettung unglücklicher Umstände landet, wird in ein rosarotes Kurhotel verwandelt. Erst wirft das Bärchen in aller Unschuld eine rote Socke in die Anstaltswaschmaschine, woraufhin die schweren Jungs einheitlich Schwarz-Rosa tragen. Dann verzaubert er seine Mithäftlinge mit seiner Orangenmarmelade: Die übliche Gefängnis-Hackordnung zerfällt, alle wollen jetzt kochen. Und backen! Im Friede-Freude-Sahnekuchen-Knast gibt es folgerichtig auch eine Gutenachtgeschichte, von einem Aufseher vorgelesen per Mikrofon für alle. Auch das Kino kann die Welt in einen besseren Ort verwandeln. Von Martina Knoben Lust: "Körper und Seele", Ildikó Enyedi Frust: "Alles unter Kontrolle", Philippe de Chauveron

"Der Tod von Ludwig XVI." von Albert Serra

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(Foto: Capricci Films)

Ein Keuchen, Ludwig XIV. liegt auf dem Sterbebett und spielt mit seinem Hund. Um den König spuken die Figuren seines Hofstaats herum, Ärzte und Diener und Hofdamen, sie registrieren den langsamen Verfall des Monarchen und besprechen, was noch an Heilmethoden ausprobiert werden könnte: "La mort de Louis XIV.", von Albert Serra. Den Louis spielt Jean-Pierre Léaud. Es ist ein fröhliches Keuchen, als er mit dem Hund spielt, und wenn er plötzlich seinen Kopf wendet, flitzt ein Lächeln über sein Gesicht, wie es dem ganz jungen Léaud zu eigen war, in Truffauts Film "Les 400 Coups". Ein Kino, das die Zeit aufheben kann. Von Fritz Göttler Lust: "Manchester by the Sea", Kenneth Lonergan Frust: "Die Verführten", Sofia Coppola

"Alien: Covenant" von Ridley Scott

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(Foto: 20th Century Fox Germany)

Schwer beladen, bewaffnet und in Tarnkleidung schleichen sie durch den zerklüfteten Nadelwald. Zugleich schön und schrecklich liegt der kalte Nebel in den Baumwipfeln. Es herrscht Totenstille. Die Männer und Frauen sind ahnungslose Astronauten. Und diese Welt, die so vertraut und zugleich fremd aussieht, ist ein neu entdeckter Planet, der entweder das Paradies oder die Hölle verspricht. Seit dem ersten "Alien"-Film von 1979 weiß man eigentlich, dass solche Expeditionen nie gut ausgehen. Trotzdem fiebert man mit diesen Pionieren wie beim ersten Mal und möchte alles, was man über dieses vertraute Unbekannte schon weiß, noch einmal sehen. Von Nicolas Freund Lust: "Blade Runner 2049", Denis Villeneuve Frust: "Power Rangers", Dean Israelite

"Manchester by the Sea" von Kenneth Lonergan

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(Foto: Universal)

Ein Mann und eine Frau begegnen sich auf der Straße, zum ersten Mal, Jahre nach einer Familientragödie unermesslichen Ausmaßes. Mitten im öffentlichen Raum kommt es zu einer erschütternd intimen Begegnung, in der nichts ausgesprochen und doch alles gesagt wird, mit ausweichenden Blicken und brüchigen Stimmen. Michelle Williams und Casey Affleck überhöhen diese Begegnung zu einem Oscar-Moment, in dem größte Nähe und größte Entzweiung untrennbar verquickt sind - und sich ein ganzer Film über die Abgründe der Trauer und die zart keimende Möglichkeit des Weiterlebens verdichtet. Von Anke Sterneborg Lust: "Blade Runner 2049", Denis Villeneuve Frust: "Die Hütte", Stuart Hazeldine

"The Lost City of Z" von James Gray

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(Foto: Studiocanal)

Percy Fawcett (Charlie Hunnam) sucht sein Leben lang nach Z, einer verschollenen Stadt im Urwald; auf seiner letzten Expedition wird er gemeinsam mit seinem Sohn von Indianern sanft auf ein Fackelmeer zugetragen. James Grays romantischer Abenteuerfilm kehrt zum Kino des letzten, längst vergangenen Jahrhunderts zurück, zu Capra, Visconti, Kurosawa. Aber wenn dieses Kino wie die Fackeln verbrennt, dann brennt es auch weiter, und hält, noch wo es verschwindet, sein Licht in unerforschtes Neuland. Von Philipp Stadelmaier Lust: "Der Ornithologe", J. P. Rodrigues Frust: "Dunkirk", Christopher Nolan

"Barry Seal" von Doug Liman

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(Foto: dpa)

Aufgereiht stehen sie da, ganz am Ende von "Barry Seal", die Drahtzieher des Kokain-und-Waffen-Karussells zwischen den USA und Nicaragua: Ronald Reagan, Oliver North, die Chefs der CIA, ganz hinten George Bush. Klar ist das Popcornkino, mit Action und Exotik und Tom Cruise. Aber diese Sequenz zeigt Dokumentarmaterial vom Iran-Contra-Skandal, und augenblicklich verändern die Bilder den Film: Bei allem Wahnwitz hat man nicht nur bloße Unterhaltung gesehen. Es war politische Geschichte. Von Doris Kuhn Lust: "Die Nile Hilton Affäre", Tarik Saleh Frust: "The Square", Ruben Östlund

"Wonder Woman" von Patty Jenkins

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(Foto: AP)

Ein Londoner Bahnsteig, Soldaten drängen zur Front des Ersten Weltkriegs. Zwischen ihnen wird etwas verkauft, was Wonder Woman nicht kennt von ihrer Amazoneninsel, die außerhalb von Raum und Zeit liegt: Eiscreme. Sie bleibt kurz stehen, kauft eine Portion, probiert und seufzt: "Es ist wunderbar!" Dann, zum Eisverkäufer, mit großem Ernst: "Sie sollten sehr stolz auf sich sein!" Das ist herrlich an diesem so anderen Superheldenfilm von Patty Jenkins - dass Wonder Woman nicht nur Wunder vollbringt und die Menschheit vor sich selbst retten will, sondern sich auch wahrhaftig und warmherzig wundern kann. Von Kathleen Hildebrand Lust: "Paddington 2", Paul King Frust: "Song to Song", Terrence Malick

"The Party" von Sally Potter

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(Foto: Sally Potter)

Noch bevor die Partygäste, die sich dann ihre Lebenslügen und den Verrat ihrer Jugendideale um die Ohren hauen werden, eintreffen, stellt Bill (Timothy Spall) sein Rotweinglas beiseite und legt mit der traumwandlerischen Präzision, die Betrunkene haben können, alte Platten auf. Das Feingefühl, mit dem er die spitze Nadel des Tonabnehmers in die Plattenrillen setzt, ist das genaue Äquivalent zur Treffsicherheit beißender Ironie, mit der Regisseurin Sally Potter ihre Figuren traktieren wird. Von Rainer Gansera Lust: "Blind & Hässlich", Tom Lass Frust: "Happy End"; Michael Haneke

"Berlin Syndrome" von Cate Shortland

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(Foto: MFA+ Film Distribution)

In der Berliner Wohnung, in der ein Mann junge Touristinnen einsperrt, gibt es eine verschlossene Tür. Irgendwann bekommt die Australierin sie auf. Ein alter Massagesessel aus zerschlissenem Leder steht dort, er bewegt sich und schnauft, als sie ihn einschaltet, wie ein mechanisches Tier. In Wien haben sie den Prater, da begegnet einem so was am helllichten Tag. Das finstere Herz Berlins aber verbirgt sich im Privaten. Nur wer von außen kommt und dann nie wieder gehen darf, findet es. Von Philipp Bovermann Lust: "Die beste aller Welten", A. Goiginger Frust: "Mother!", Darren Aronofsky

"Dunkirk" von Christopher Nolan

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(Foto: AP)

Die Moonstone fährt Richtung Normandie, um gestrandete Soldaten nach England zurückzuholen. Schon hinzu klaubt die Besatzung - unter ihnen ein halbwüchsiger Junge - einen traumatisierten Offizier von seinem im Meer dümpelnden Wrack. An Bord gibt es ein Handgemenge, am Ende ist der Junge tot. Es mangelt nicht an Opfern und Tätern in diesem Film. Aber dieser eine Junge, dessen Tod ein Unfall ist, und dieser eine Soldat, der das Kind aus Versehen tötet - sie machen die ganze Absurdität des Krieges greifbar. Von Karoline Meta Beisel Lust: "Personal Shopper", Olivier Assayas Frust: "Es", Andrés Muschietti

"The Square" von Ruben Östlund

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(Foto: AP)

Ein Kunstmuseum in Stockholm hat zur Soiree geladen. Die Appetizer sind noch nicht serviert, da wird auf die schönen und reichen Mäzene ein Performancekünstler losgelassen, der sie in der Rolle eines wilden Affen bald bis aufs Blut verängstigt. Eine Zwölf-Minuten-Szene von nervenaufreibender, ja existenzieller Wucht - aber in Ruben Östlunds Versuchsanordnung nur ein Fragment. Und doch verdichten sich darin alle moralischen Reizpunkte seines Films: der Gemeinschaft helfen oder sich selbst retten? Im Angesicht unseres animalischen Spiegelbilds findet Östlund die Triebkräfte einer auseinanderdriftenden Gesellschaft. Von Annett Scheffel Lust: "Lady Macbeth", William Oldroyd Frust: "Detroit", Kathryn Bigelow

"Blade Runner 2049" von Denis Villeneuve

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(Foto: Verleih)

K (Ryan Gosling) hat eine holografische Freundin, Joi (Ana de Armas), die so programmiert wurde, dass sie die Funktionen einer Partnerin erfüllt. Sie heuert die Sexarbeiterin Mariette (Mackenzie Davis) an, um mit K schlafen zu können. Dafür versucht sie, sich mit Mariette zu synchronisieren, was in einer flickernden, surrealen Verbindung der beiden resultiert. Immer, wenn Mariette sich bewegt, entsteht eine kurze Interferenz. Von Juliane Liebert Lust: "Get Out", Jordan Peele Frust: "Mother!", Darren Aronofsky

"T2 - Trainspotting" von Danny Boyle

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(Foto: © 2017 Sony Pictures Releasing GmbH)

Auch zwei Jahrzehnte später sind die Trainspotting-Helden noch Sklaven der Nadel, diesmal allerdings hängt sie nicht an der Spritze, sondern auf dem Plattenteller. Die Jugendjahre sind verflogen, das Erwachsensein ein Graus; aber Mark (Ewan McGregor) lernt, dass man sich in keiner Lebenskrise vom Tanzen abhalten lassen soll. Also steht er wieder in seinem Teenager-Zimmer mit der alten Tapete, und schwitzt und zappelt allein vor sich hin, als sei die Zeit stehen geblieben, während Iggy Pop "Lust for Life" grölt, diesmal im Midlife-Crisis-Remix. Von David Steinitz Lust: "Es", Andrés Muschietti Frust: "Baywatch", Seth Gordon

© SZ vom 21.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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