Kino:Der Frühling kommt immer schneller

Film Nanouk

Die beiden Alten, Nanouk (Mikhail Aprosimov) und Sedna (Feodosia Ivanova), leben vollkommen allein, ohne Stamm, ohne Kinder.

(Foto: Neue Visionen)

Der bulgarische Regisseur Milko Lazarov erzählt in überwältigend schönen Bildern vom bedrohten Leben in der Arktis.

Von Martina Knoben

Wie verzweifelt muss die Kinobranche sein, wenn nun schon dokumentarische Stummfilme aus den 1920er-Jahren recycelt werden? Das ist der erste Gedanke bei "Nanouk" des bulgarischen Regisseurs Milko Lazarov, der eine Wiederaufnahme von "Nanuk, der Eskimo" zu sein scheint, Robert J. Flahertys Dokumentarfilmklassiker über den Alltag der Inuit.

Knapp hundert Jahre später tritt erneut ein ernst aus der Fellkapuze blickender Nanouk (Mikhail Aprosimov) mit einem Hundeschlitten vor die Kamera. Er ist allerdings kein Inuit, sondern gehört dem Volk der Ewenken an, die in Sibirien und in der Mongolei leben. Das ist der erste Unterschied zu Flahertys Film. Der Alltag, den Lazarov in langen, quasidokumentarischen Einstellungen zeigt, scheint immer noch derselbe zu sein: Fischen und Fallenstellen, der Kampf gegen Schneestürme; während Nanouk sich um Nahrung kümmert, flickt seine Frau Sedna (Feodosia Ivanova) Fischernetze oder näht Kleidung aus den Fellen erlegter Tiere. Fast scheint es, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Hier wird ein kulturelles Erbe gefeiert, das niemand mehr antreten wird

Dass das eine Illusion ist, diverse ökologische und soziale Probleme den indigenen Völkern am Polarkreis zusetzen - und Milko Lazarov diese Veränderungen sehr genau registriert -, zeigt schon ein Detail zu Beginn seines Films. Ein Flugzeug fliegt da über Nanouk und seinen Hundeschlitten hinweg. Zwei Welten existieren nebeneinander, die sich nur scheinbar nicht berühren. "Seit ein paar Jahren kommt der Frühling immer schneller", sagt Sedna. Obwohl sie und ihr Mann vom Klimawandel noch nie gehört haben, spüren sie, dass ihnen die Lebensgrundlage buchstäblich wegschmilzt.

"Nanouk" ist ein Film der Erinnerungen und des Abschieds, das traurige Lied einer sterbenden Kultur. Im Original heißt er denn auch nicht "Nanouk", sondern "Ága". Das ist der Name von Nanouks Tochter, die die Jurte der Eltern vor langer Zeit verlassen hatte und nun als Ingenieurin in einer Diamantmine arbeitet. Sie symbolisiert die Veränderungen und Brüche in der Kultur der Ureinwohner.

Für Lazarov ist "Nanouk" der zweite Film, nach "Alienation", der 2013 in Venedig als bestes Debüt ausgezeichnet wurde. In überwältigend schönen Bildern beschwören er und sein Kameramann Kaloyan Bozhilov die Großartigkeit der arktischen Landschaft. In dieser gnadenlosen Wildnis kann kein Einzelner bestehen - rührend sind die Eindrücke vom "Feierabend" in der Jurte, sie zeigen die Vertrautheit des alten Paares. Lazarov Mikhail Aprosimov, der Nanouk spielt, ist ein erfahrener Theaterdarsteller und Romanautor. Feodosia Ivanova, die seine Frau verkörpert, ist zwar Laiendarstellerin, stand aber ebenfalls schon auf der Bühne. Die beiden ergeben nicht nur ein wunderbares Leinwandpaar, sie vermitteln auch die Größe und Schönheit der traditionellen Handwerks- und Jagdtechniken, die Nanouk und Sedna praktizieren. Ein Holz in Form eines Fisches, das eine Falle befestigt, wirkt wie ein Kunstwerk.

Lazarov feiert ein kulturelles Erbe, das niemand mehr antreten wird. Die beiden Alten leben vollkommen allein, ohne Stamm, ohne Kinder. Auch die Rentiere, die früher einmal das Leben der Ewenken bestimmten, kommen nicht mehr. Nanouk und Sedna wirken wie die Letzten ihrer Art. Ein abgegriffenes Schwarz-Weiß-Foto, das Sedna aus einer Truhe holt, in der sie besonders wertvolle Dinge aufbewahrt, zeugt von besseren Tagen. Es zeigt Nanouk und Sedna mit ihrer damals halbwüchsigen Tochter Ága. In der Nähe der Jurte der Alten gibt es eine Entsprechung zu dieser Fotografie. Drei Felsen sehen aus wie Eltern, die ihr Kind in die Mitte nehmen. Sie liebe diese Felsen, sagt Sedna zu ihrem Mann. Immer wieder gibt es im Film solche Verbindungen zwischen den Menschen und der Natur, die sie umgibt. Schneefüchse und Schneehasen sterben an einer seltsamen Krankheit, die schwarze Löcher in ihr weißes Fell hineinfrisst. Diesen schwarzen Löchern entsprechen die hässlichen schwarzen Spuren, die ein Motorschlitten im Schnee zurücklässt. Und auch Sedna ist schon gezeichnet, sie hat einen großen schwarzen Fleck an einer Körperseite. Die Schmerzen, die dieser Fleck ihr bereitet, kann sie mit einer selbstgefertigten Salbe lindern. Aber sie weiß, dass sie nicht mehr lange leben wird.

Etwas frisst sich in dieses Leben und wird es umbringen. Das zeigen die schwarzen Flecken. Sie symbolisieren die Wunden, die der Mensch der Natur zufügt. Längst hat sich eine magische Ebene in den Film geschlichen - und auch Musik. In einem hochdramatischen Moment ist in der Rentierjurte Mahlers traurige Fünfte Symphonie zu hören, obwohl Nanouk kein Radio und keine Stereoanlage besitzt. Flahertys "Nanuk" ist kein Vorbild für den souverän und wuchtig erzählenden Lazarov, eher ein filmischer Referenzpunkt: So unbekümmert, ja fröhlich, konnte man vor hundert Jahren noch vom Leben in der Arktis erzählen.

Ága, Frankreich/Deutschland/Bulgarien 2018 - Regie: Milko Lazarov. Buch: M. Lazarov, Simeon Ventsislavov. Kamera: Kaloyan Bozhilov. Schnitt: Veselka Kiryakova. Mit: Mikhail Aprosimov, Feodosia Ivanova, Galina Tikhonova, Sergey Egorov. Verleih: Neue Visionen, 96 Minuten.

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