Süddeutsche Zeitung

Kino: Coco Chanel & Igor Stravinsky:Die Existenz aufkratzen

Die Frau ist die Moderne, der Mann eindeutig in der schwächeren Position: Die Affäre zwischen Coco Chanel und Igor Stravinsky, impulsiv erotisch im Kino.

Fritz Göttler

Der Skandal war ja irgendwie vorhersehbar, von manchen womöglich einkalkuliert, vorprogrammiert - der 29. Mai 1913, die Uraufführung des "Sacre du printemps", im Théâtre des Champs-Élysées in Paris.

Nach wenigen Sekunden setzte die Unruhe im Publikum ein, Zwischenrufe, Drohungen, scharenweise verließ man den Saal. Lustvoll inszeniert der Film diese Turbulenzen, er kehrt den Blick um, zeigt in einem irren Panorama die Schichten der Erregung, vorn die Tänzer der Nijinsky-Truppe, die doch eher schauerlich agieren, dahinter das Orchester mit dem unerschütterlichen Pierre Monteux am Dirigierpult, dahinter den gewaltigen Moloch Publikum.

Es war eine Frontalattacke, die alle ästhetischen Erfahrungen und Kategorien für nichtig erklärte, die überlegenen, rezeptiven Zuschauer zu Mitmachern in einem wilden archaischen Ritual machen sollte. Kunst als Regression. Nur eine weitere Figur bleibt in diesem Hexenkessel so cool wie der Dirigent Monteux, Gabrielle Chanel, die junge erfolgreiche Modemacherin. Von der kurzen Affäre zwischen ihr und dem Komponisten Stravinsky erzählt Jan Kounens kühner kleiner Film.

Der Mann ist eindeutig in der schwächeren Position in dieser Affäre, Stravinsky, gespielt von Mads Mikkelsen - noch um einige Grad kühler als sein Bondschurke in "Casino Royale". Die Musik, die er schreibt, ist ihm weit voraus, der Mann selbst ist noch nachhaltig affiziert vom Geniekult, schleppt aus dem Zarenreich noch Reste der romantischen Vorstellungen von der Unbedingtheit, der Impulsivität der Kunst mit sich herum.

Die Frau in der Affäre ist die Moderne, Gabrielle Chanel, genannt Coco, verkörpert von Anna Mouglalis. Sie betreibt Kunst als Fabrikation, als Couture, wo das Gemachte, das Zurechtgeschneiderte zählt. Das frühe Studio-Hollywood, so ein schöner, knapper Satz der Kinogeschichte, ist eine Schöpfung von Kleider- und Pelzhändlern.

Anfangs sieht man Coco im berühmten verspiegelten Treppenhaus in ihrem Pariser Haus, das ihr Bild in vielfachen Facetten wiedergibt - Cocos Leben als Kaleidoskop. Auf dieser Treppe endete auch der erste Chanel-Film, der vor einigen Monaten ins Kino kam, von Anne Fontaine, mit Audrey Tautou als junger Coco.

In ihrem Haus auf dem Lande, Bel Respiro, findet sich neue Sachlichkeit inmitten wuchernder Natur. Das Leben wird streng gefasst, aber in den allgegenwärtigen Mäandermustern des Art Déco an Wänden und auf den Fußböden ist die impulsive erotische und emotionale Energie weiter spürbar, das unerbittliche Schwarzweiß ist lebhafter als jede Farbigkeit.

Nach dem Eklat des Sacre quartiert Coco Stravinsky und seine Familie hier ein, eine Frau, schwindsüchtig, und vier Kinder. Der Künstler und sein Refugium, die alte Vorstellung wird von Jan Kounen ironisch zerlegt - zuletzt hatte er in "39,90", nach Beigbeder, den Hase-und-Igel-Lauf zwischen dem Leben und der (Reklame-)Kunst rigoros durchgespielt, in dem am Ende das eine nicht mehr so wahr und die andere nicht mehr so illusionär und falsch dastehen.

Seit Barthes' berühmtem Buch weiß man, dass die Mode ein System ist, eine Schrift, die man lesen muss. Chanel betreibt modischen Konstruktivismus, lyrisches Potential funktioniert bei ihr wie exakte Wissenschaft, sie braucht es, um ihrem Chefparfumeur in Grasse eine Vorstellung von der Mischung ihres neuen Parfums zu vermitteln. Das ist eine sehr kontrollierte, aber ungemein sinnliche Sequenz. Stravinsky zieht derweil neue Zeilen aufs Notenpapier, das ist, als würde er seine eigene Existenz, seine Haut aufkratzen.

COCO CHANEL & IGOR STRAVINSKY, F 2009 - Regie: Jan Kounen. Buch: Chris Greenhalgh, nach seinem Roman. Musik: Gabriel Yared. Kamera: David Ungaro. Mit Anna Mouglalis, Mads Mikkelsen, Elena Morozova. PaCo, 120 Min.

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SZ vom 15.4.2010/rus
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