Es gibt zwei Arten, wie man Glück verstehen kann - das Spiel der Zufälle, das Schicksal, das dem einen Steine in den Weg legt und dem anderen nicht; und die glückliche Empfindung, die vielleicht allein darauf basiert, zu genießen, was da ist, und sich nicht nach dem zu sehnen, was man partout nicht haben kann. Beides wird ungerecht verteilt unter den Menschen, und von dieser Ungerechtigkeit handelt, mehr noch als sein letzter Film "Happy-Go-Lucky", Mike Leighs neuer Film "Another Year".
Es geht um eine Gruppe von Menschen, die alle mehr oder weniger der selben sozialen Schicht angehören, und um ihr Glück - kein materielles, zumindest nicht die Anwesenheit von Luxus, sondern nur die Abwesenheit existenzieller Sorgen. "Another Year" folgt so einer Art urbanen Großfamilie über ein Jahr, in vier Sequenzen, für jede Jahreszeit eine - ein funktionales Paar kümmert sich um eine Reihe von dysfunktionalen Singles, die ihnen das Leben anvertraut hat, mit der geduldigen Hingabe berufener Eltern. Das reicht als Ausgangspunkt für einen Mike-Leigh-Film - er ist der Meister des magischen Alltags, alles, was geschieht, geschieht zwischen den Menschen, die er beobachtet, und so erschafft er kleine komische, tief emotionale Dramen, an denen man sich nicht sattsehen kann. "Another Year" könnte endlos weitergehen, und es gäbe an diesen komplexen, unendlich charmanten Figuren immer noch etwas zu entdecken.
Das Paar in "Another Year" heißt tatsächlich Tom und Gerri, sie sind nicht mehr jung, ewig verheiratet, der Sohn ist schon aus dem Haus. Gerri (Ruth Sheen) ist Therapeutin, Tom (Jim Broadbent) Ingenieur. Sie sind vielleicht nicht unendlich glücklich - aber sie haben sich mit dem, was ist, sehr gut eingerichtet. Allein das Haus, das sie bewohnen, erzählt tausend Geschichten, all der Nippes, die Bücher, die dekorative Unordnung, in der die beiden leben. Sie sind selbst ein wenig anstrengend, so viel Gutmenschentum und Verständnis kann einem manchmal auf den Geist gehen. Und das Sammelsurium gescheiterter Existenzen, das sich um ihren Küchentisch schart, fühlt sich dann vielleicht noch ein wenig kleiner und schäbiger, und weiß nicht wohin mit sich und seinen Emotionen - denn so wunderbaren Menschen kann man doch ihre nette, wohlwollende Überheblichkeit nicht übelnehmen.
Da ist Ken, ein alter Freund, der zu viel trinkt und zu viel isst und zu wenig macht aus seinem Leben - er tut eigentlich alles, um sich ein frühes Grab zu schaufeln, eine rührend hilflose, bedürftige Gestalt. Später kommt auch noch Toms Bruder dazu - seine Frau ist gestorben. Aber vor allem gehört Mary (Lesley Manville) fast zur Familie, die Sekretärin ist in dem Krankenhaus, in dem auch Gerri arbeitet - ein hoffnungsloser Fall. Sie trinkt zu viel, erlebt einen Rückschlag nach dem anderen und gibt doch nicht auf, aber was sie auch anfasst - es macht sie immer noch unglücklicher. Ein kleines Auto soll her, dann, sagt Mary, ist sie frei - keine gute Idee, für jemanden der so viel trinkt und so schlecht organisiert ist wie sie. Die Freiheiten, die sie hat, will sie nicht - und dass es keine andere Freiheit geben wird, dafür sorgt sie selbst. Viele Momente, die wir in dieser Küche erleben, sind komisch - aber letztlich ist sie ein Massengrab der kleinen Träume.
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Mike Leigh arbeitet mit einer unaufdringlichen, aber ganz strukturierten Kamera, die unser Augenmerk auf Details lenkt - improvisierte Einstellungen, sagt Mike Leigh, gibt es bei ihm so gut wie nie. Was er beherrscht wie kein zweiter, das sind warmherzige Charakterstudien - er erschafft Figuren, die ein wenig extremer sind in ihren Schwächen und Ticks, manchmal auch in ihrer Großherzigkeit, als wir selbst; aber wir entdecken uns trotzdem immer in ihnen wieder. Und weil er selbst die größten Nervensägen noch mit so viel Liebe zeichnet - deswegen sind sie komisch. Im Idealfall lacht man in einem Film von Mike Leigh über sich selbst, all die Peinlichkeiten, all die Tritte in Fettnäpfchen.
Mary ist ein trauriger Clown, die Frau hat nichts im Griff, vor allem nicht sich selbst - beim Trinken kommt ihr das letzte Quentchen Realismus abhanden. Ihr nicht mehr ganz junges Aussehen unterstreicht sie noch durch Kleinmädchenklamotten. Mein Look arbeitet gegen mich, sagt sie, die Männer schrecken zurück, wenn sie merken, dass ich nicht so jung bin, wie sie geglaubt haben. Im richtigen Leben würde man sich bei einer solchen Bemerkung das Lachen nur mit Mühe verkneifen können - wie alt, um Himmels willen, müsste diese Frau wohl sein, um jünger zu wirken, als sie ist? Aber mal ehrlich: Fragt sich nicht jede Frau irgendwann, ob das, was sie im Spiegel sieht, wirklich noch dem entspricht, was andere wahrnehmen? Es braucht eine hervorragende Schauspielerin für solche Momente - wie mit fast all seinen Akteuren hat Leigh mit Lesley Manville mehrfach gearbeitet, unter anderem in "All or Nothing", in dem auch Ruth Sheen spielte, Broadbent war unter anderem in "Vera Drake" dabei, wie auch Peter Wight, der den Ken spielt. Leigh, der seinen Schauspielern nie das ganze Script gibt, nie die ganze Geschichte erzählt, braucht das Vertrauen eines Ensembles, das an seine Arbeitsweise gewöhnt ist.
Das Jahr vergeht, und man würde gern ewig sitzenbleiben am Küchentisch von Tom und Gerri - "Another Year" spielt sich ab wie das Leben, und wie vom Leben selbst kann man nicht davon lassen, auch nicht in den dunklen Stunden. Es ist auf den ersten Blick eine winzige Tragödie, die mit den Jahreszeiten entsteht. Mary hat sich, aus Wahn und Trunkenheit und Hoffnungslosigkeit, in den Sohn des Hauses verknallt, und geht, als der das erste Mal seine neue Freundin mitbringt, auf die vermeintliche Rivalin los. Sie wird verbannt, damit bricht für sie eine Welt zusammen - sie hat dort ihren einzigen Halt. Wie sie wieder langsam auf die Füße kommt, das ist ein emotionaler Thriller.
In der allerersten Einstellung sieht man eine Frau, Imelda Staunton, die für Leighs Abtreibungsdrama "Vera Drake" eine Coppa Volpi in Venedig bekommen hat - hier ist sie ein Häufchen Elend, das eine Therapeutin um ein Schlafmittel bittet. Die Therapeutin würde lieber mit ihr klären, was das ist, das sie nachts nicht schlafen lässt. Aber sie kann nicht darüber reden: Weil, man sieht ihr das an, dann das ganze hässliche Kartenhaus zusammenfällt, das ihr Leben ausmacht. Sie will nur schlafen, ein ziemlich bescheidener Wunsch, den ihr das Leben nicht erfüllt.
ANOTHER YEAR, GB 2010 - Regie, Buch: Mike Leigh. Kamera: Dick Pope. Mit: Jim Broadbent, Ruth Sheen, Lesley Manville, Oliver Maltman, Peter Wight. Prokino, 129 Minuten.