Kindesmissbrauch und Literatur:Die Hölle, das ist das Zuhause

In Filmen und Romanen schlägt uns derzeit auffällig viel Jugendelend entgegen. Was hat das mit dem realen Kindesmissbrauch zu tun?

Andreas Zielcke

Ist es eine zufällige Koinzidenz? Oder gibt es akute Gründe, warum sich im Augenblick Bücher und Filme über unglückliche Kindheit und Jugend häufen?

Georg Kleins soeben mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter "Roman unserer Kindheit" malt schonungslos die "frühen Raubtierjahre des Lebens" aus. Der ebenfalls für Leipzig nominierte Roman Jan Faktors mit dem kuriosen Titel "Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag" berichtet autobiographisch vom obszön-tristen Aufwachsen unter der "kannibalischen Liebe der Mutter und dem brutalen, versoffenen Großmaul des Vaters".

Auch Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill" gehört dazu. Und natürlich Michael Hanekes Film "Das weiße Band". Selbst der vernichtende Geist, gegen den sich Harry Potter über die ganze Kindheit hinweg durchsetzen muss, ist trotz aller Märchenzauberei nicht weit davon entfernt. Nichts verbindet die Geschichten, die in völlig verschiedenen Zeiten und Orten angesiedelt sind. Nur eines eint sie, der Hohn auf jede kindliche Idylle oder jugendliche Harmonie. Kindheit ist eine mörderisch-schwere Prüfung.

Und parallel zu der Häufung literarischer und filmischer Kindheitsmiseren enthüllt man den seriellen Kindesmissbrauch in Internaten und Klosterschulen. Er aber ist nicht das Thema der Fiktionen. Gibt es trotzdem einen Kontext, der das alles zusammenknüpft?

In den siebziger Jahren hatte Katharina Rutschky die Methode der "Schwarzen Pädagogik" beschrieben. In der Tat, mit dem Begriff lässt sich ein Teil der Schrecken erfassen, um die es hier geht. Vor allem das "Weiße Band" mit seiner Darstellung diktatorischer Erziehungsweisen vor dem Ersten Weltkrieg handelt exemplarisch von solcher Erniedrigungspädagogik.

Doch die Härte der Kindheitserlebnisse, die im Moment die Gemüter bewegen, scheint in den meisten Fällen weniger einem erzieherischem Regime geschuldet als einer insgesamt rohen, unfähigen oder triebhaften Welt. Nurmehr als deren Spottgeburt sehen sich etwa die Jugendlichen in "Axolotl". Eine andere als die rüde-destruktive Sprache Hegemanns verdiene sie deshalb nicht.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum die Erwachsenen ihre Kinder verraten.

Luxusdepressionen

So jedenfalls lautet die Diagnose eines Rezensenten wie Maxim Biller:

"Kommen wir jetzt zur Moral dieses Buchs, reden wir über die Schuld der Erwachsenen, in der Literatur und in der Wirklichkeit. Sie - auch das lernt man bei Hegemann - verraten ihre Kinder noch mehr als alle Erwachsenen davor. Sie erfinden für sie das Internet, verrückte Drogen, den Pisa-Schock, Tierpornos und ,Germany's Next Topmodel' und lassen sie dann, viel zu sehr von der eigenen Wohlstandverwahrlosung und Luxusdepression beeindruckt, mit diesem trostlosen, gemeinen, extremkapitalistischen Schwachsinn und ein paar überforderten Lehrern und Psychologen allein."

Natürlich ist es das alte Vorrecht der Jungen, den Alten die missratene Welt vor die Füße zu werfen. Wer denn sonst sollte schuld an allem Schlechten sein? Doch selten war zu unterscheiden zwischen pubertärer Pose und gerechter Wut. Vor allem aber: Warum hat der düstere Blick auf die Erbärmlichkeit der frühen Lebensjahre jetzt Konjunktur?

Zwei Überlegungen bieten sich an, die erste zur Inkubationszeit der Enthüllung, die zweite zum verunsicherten Umgang mit "Kindheit".

Die Fälle sexuellen Missbrauchs und die Romane etwa von Klein und Faktor haben gemeinsam, dass Jahrzehnte die Geschehnisse von dem Reden über diese Geschehnisse trennen. In den fiktiven wie in den realen Fällen spielen sich die rauen, schmerzvollen Kindheitserlebnisse vor 50, 40 oder 30 Jahren ab.

Lesen Sie weiter auf Seite 3, warum uns tiefer Pessimismus entgegenschlägt.

Jenseits der Erziehung

Das unterscheidet sie vom Typus der Hegemannschen Provokation. Geht es nach ihr, findet die Absurdität, Dummheit und Grausamkeit der Erwachsenenwelt in der Sprache der offensiv-desolat gestimmten Jungen ihre direkten, synchronen Ausdruck. Nicht dass dies jede Glaubwürdigkeit vereiteln würde. Doch mit dem Schrecken der späten, um eine Lebensdauer versetzen Berichte ist es nicht zu vergleichen. Bei Hegemann spielt es keine Rolle, ob Jugendliche vergewaltigt werden, denn vergewaltigt ist ja die ganze Welt. Das ist rhetorisch leicht zu haben. Ist das Unglück nicht persönlich und intim, sondern weltumspannend, lässt sich mit Worten spielen.

Das leitet über zum zweiten Punkt, dem Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern und zur Erziehung. Hier tritt immer offener eine große Krise zu Tage, eine Krise, die sich aus vielen Quellen speist. Alle Enthüllungen von sexuellem Missbrauch durch Lehrer und Betreuer können nicht vergessen machen, dass nicht nur damals, als sich die meisten Vorfälle ereigneten, sondern heute Kinder vor allem in den Familien und Nachbarschaften missbraucht werden. Geschätzte Dunkelziffern schwanken zwischen jedem zehnten bis zu jedem fünften Kind, das solchen Akten ausgesetzt wird. Die sexuelle Hölle, das sind trotz allem nicht die Institutionen, es ist das Zuhause.

Dennoch, die direkten Übergriffe sind nicht das Hauptproblem, zumal sich hier die Dinge wohl zum Besseren wandeln. Gemessen an dem optimistischen Aufbruch, der vor drei, vier Jahrzehnten den Umgang mit Kindern beflügelte, hat sich inzwischen darüber ein Nebel aus Unsicherheit und Fatalität ausgebreitet.

Nicht nur, dass die Schulen längst als überfordert gelten, die nachholende Erziehung zu leisten, deren Mangel in den häuslichen Verhältnissen man allenthalben beklagt. Es ist dieser Mangel selbst, der so viele alarmiert, für den aber niemand eine Lösung sieht. Beide Formen, in denen er sich ausprägt, summieren sich zu einem finsteren Tatbestand.

Sei es die von Biller erwähnte Wohlstandsverwahrlosung in den besseren Ständen, in denen sich verwöhnt-überversorgte und gleichzeitig unverstandene und vaterlos sich selbst überlassene Jugendliche in ihre eigene Welt einspinnen. Sei es die Armutsverwahrlosung in unteren Schichten, in denen Fernseher, Computer, Spielkonsolen und trotzig abgedriftete Peergroups die Nicht-Erziehung übernehmen und zum sozialen Ausschluss der Jungen führen: Die Jugend ist woanders, sieht etwas anderes, will etwas anderes - jenseits der Erziehung.

Wie aber war das damals, als man mit Philipp Ariès die Kindheit als Lebensphase eigenen Rechts und eigener Würde entdeckte? Als man mit Jean Piaget und Lawrence Kohlberg die moralische Entwicklung der Kinder entfaltete? Als man in ihnen die Freiheit, die Träume der Welt und die bessere Zukunft sah?

Nun aber erkennt man, dass sie nicht selbst, sondern nur als Projektion der Eltern wahrgenommen werden, die ihnen die Zukunft, aber keine Zeit widmen, und vor allem, dass man sie moralisch erzieht in einer Welt, die derlei Erziehungsziele mit manifester Amoral dementiert.

Kein Wunder, dass der Idealismus nicht nur in Realismus umschlug, sondern in tiefen Pessimismus. Ihn drücken die heutigen Romane und Filme aus. Aber selbst ein legitimer Pessimismus kann in Selbstmitleid münden. Kindern hilft er nicht.

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